Sex-Ed: Weibliches Masturbieren ist von vielen Mythen und Tabus umgeben. Ein Blick in die Vergangenheit klärt das Phänomen auf
Vielleicht ist es eines der letzten großen Tabus unserer vermeintlich sexuell aufgeklärten Gesellschaft. Masturbation, Onanie, Selbstbefriedigung – diese technisch klingenden Begriffe hat die deutsche Sprache für die Umschreibung dieses persönlichen Erlebnisses reserviert. Für die Selbstbefriedigung bei Männern existieren immerhin viele Synonyme (die ersten Treffer bei Google ergeben: fünf gegen einen, den Hahn würgen, abschütteln, sich einen runterholen, keulen – das Konzept ist klar). Auch durch Challenges wie den „No Nut November“ findet sich männliches Onanieren im Diskurs wieder und wird hierbei als ein beinahe unbezwingbares Bedürfnis dargestellt. Doch Studien, wie im Jahr 2010 von der International Society for Sexual Medicine durchgeführt, zeigen, dass es diese scheinbar gravierenden Unterschiede zwischen Männern und Frauen so nicht gibt. 94 Prozent der Männer gaben an, regelmäßig zu masturbieren, bei Frauen sind es 85 Prozent. Diese geringe Abweichung reicht nicht als Erklärung für die Sprachlosigkeit in Bezug auf weibliche Onanie aus. Doch ist es überhaupt notwendig, darüber zu sprechen? Zumindest lohnt ein Blick in die Geschichte, um das sich darum rankende Tabu zu verstehen. Die Sozialmoral der christlichen Religion findet sich schon in der biblischen Geschichte von Onan, der „seinen Samen auf den Boden fallen ließ“ und dafür von Gott mit dem Tod bestraft wurde. Dieses Verständnis findet sich im Mittelalter immer wieder und führte vor allem zu einem Totschweigen von Sexualität an sich. Erst mit der Aufklärung jedoch bildet sich eine starke Stigmatisierung der Selbstbefriedigung heraus. Kant beispielsweise warnt in seiner Metaphysik der Sitten, dass die „wohllüstige Selbstschändung eine Verletzung der Pflicht gegen sich selbst“ sei, indem man sich bloß als Mittel zur Befriedigung seiner Triebe gebrauche.
Auch auf medizinischer Ebene wurde Masturbation im 19. Jahrhundert zunehmend tabuisiert. So erklärte der belgische Biologe Édouard van Beneden nach der Entdeckung des Mechanismus der Befruchtung der Eizellen die Klitoris für ein überflüssiges Organ. Sie wurde nun verdächtigt, Epilepsie, Hysterie und andere Formen des Wahnsinns zu verursachen – wogegen eine Behandlung mit Vibratoren helfen sollte. Eine sicher absolut wirksame Therapieform. Pioniere der Sexualwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie Magnus Hirschfeld und Iwan Bloch brachten eine Systematik und Terminologie in die Forschung, die nun salonfähig und weniger pathologisch betrachtet wurde. Einzug in die Politik hielt das Thema Onanie im Jahr 1928, als eine Unterorganisation der KPD, genannt SEXPOL, gegründet wurde. Sie propagierte freie Liebe, Masturbation und den erlaubten Schwangerschaftsabbruch. Mit der 68er-Bewegung änderte sich der Blick auf Selbstbefriedigung dann grundlegend. Forderungen nach absoluter sexueller Freiheit befreiten das Thema von vielen Stigmata und trugen zu einem offeneren Diskurs bei. Heute sind Sexualiät und Masturbation zu einem Markt geworden – auf Instagram oder auch in der TV-Werbung fliegen immer wieder bunte Sextoys über den Bildschirm, verkauft mit dem Argument der sexuellen Selbstbestimmung und dem Versprechen von Diskretion bei der Lieferung. Dies ist nicht unbedingt ein Ausdruck von Freizügigkeit; Aufklärung kann über Werbung nicht funktionieren, dafür wäre ein schamfreier Dialog erforderlich. Doch zeigt dies eins – Frauen masturbieren. Und falls ihr demnächst einen Anflug von Hysterie verspüren solltet, ist immerhin ein Gegenmittel schnell zur Hand.
Von Nele Bianga