Ein Austauschstudent in Russland berichtete über Proteste gegen den Bau eines Bergwerks. Deshalb drohte ihm die Abschiebung
Zwei Polizisten betreten im Juni spät abends die Wohnung meines Kommilitonen Lukas Latz im Studierendenwohnheim. Geklingelt haben sie nicht, nur einer von ihnen weist sich aus. Lukas studiert in Berlin Osteuropastudien und machte ab August 2018 ein Auslandssemester an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg (SPbGU). Dort forscht er für seine Masterarbeit zum Thema Umweltbewegungen in Russland. Die Recherchen veröffentlicht er auch in der deutschen Wochenzeitung Jungle World. Mitte April erschien sein Artikel über den Bau eines Kupferbergwerkes in der russischen Industriestadt Tscheljabinsk im Ural.
Die Bürgerinitiative „Stop GOK“ (GOK bedeutet so viel wie Bergwerk) leistet dort Widerstand gegen Oligarchen und die lokale Regierung, um ihre Stadt vor noch stärkerer Umweltverschmutzung zu schützen. Tscheljabinsk ist bereits eine der am stärksten verschmutzten Städte Russlands. Für seine Masterarbeit und den Artikel machte er Fotos und führte Interviews, die ihm einige Wochen später, Anfang Juni, zum Verhängnis werden.
Die Polizisten im Wohnheim werfen Lukas vor, durch seine Tätigkeit in Tscheljabinsk die Auflagen seines Visums verletzt zu haben. „Von dem Artikel war noch nicht die Rede“, so Lukas, „nur von den Interviews, die ich geführt habe.“ Auch das Geld, das Lukas für den Artikel bekam, erwähnen die Polizisten nicht. Sie legen ihm zwei Polizeiprotokolle vor und drohen mit einem Strafverfahren. Eingeschüchtert unterschreibt er die Protokolle und bezahlt eine Geldstrafe von ca. 55 Euro. Juristischen Beistand kann er sich erst nach dem abendlichen Verhör holen, erst später legt er vor Gericht Beschwerde gegen seine drohende Deportation ein.
Verlassen muss Lukas Russland trotzdem, er fährt nach Helsinki. Vor dem Bahnhof führt er noch ein Interview mit dem unabhängigen Radiosender Echo Moskwy.
Bis zu seiner Ausreise weiß Lukas nicht, weshalb er wirklich gehen muss. Im Rektorat konnte ihm niemand sagen, warum er exmatrikuliert wurde, ob wegen der Visumsverletzung, des erhaltenen Geldes oder wegen der Interviews: „Die Leitung hat das so entschieden“, sagte ihm das Büro für Internationale Beziehungen. Mit der Frau, die seine Exmatrikulation unterschrieb, darf Lukas bis zu seiner Ausreise nicht sprechen. Auf Anfrage des ruprecht antwortet der Vizerektor für Internationale Beziehungen der SPbGU, Sergej Andrjuschin, dass der Grund für Lukas’ Exmatrikulation ganz allein die Verletzung seiner Visaauflagen ist: „Lukas Latz war administrativ haftpflichtig laut einer Entscheidung des Rektorats für Migration des Hauptdirektorats des Russischen Ministeriums für Innere Angelegenheiten, Sankt Petersburger Abteilung. So betrifft dieser Fall allein die Einhaltung russischer Gesetze und Maßnahmen im Fall ihrer Nichteinhaltung.“ Dass das Dokument, auf das sich Andrjuschin bezieht, erst seit November 2018 gültig ist, also erst nach Beginn von Lukas’ Aufenthalt in Russland, verschweigt er.
Der offizielle Standpunkt der SPbGU ist, dass hinter Lukas’ Exmatrikulation keinerlei politisches Kalkül stecke und es eine rein administrative Maßnahme aufgrund von Visaverletzungen sei.
Diese Argumentation erscheint russischen und internationalen Studierenden suspekt, denn dass Austauschstudierende in Sankt Petersburg arbeiten, ist ein offenes Geheimnis. Viele meiner Kommilitonen arbeiten in Sprachschulen oder geben bezahlten Nachhilfeunterricht. Und auch die Uni ist daran beteiligt: Ein Professor bot mir an, mich an eine Sprachschule zu vermitteln, an der ich auch ohne jegliche Ausbildung Deutsch unterrichten kann. Dafür gäbe es ca. 20 Euro pro Stunde, natürlich schwarz.
Lukas’ Exmatrikulation ist daher doppelt scheinheilig – erstens bezahlte er die Geldstrafe für das Visavergehen und zweitens stören arbeitende Studierende die Uni wohl nur, wenn sie kritischen Journalismus betreiben. Auch dass man Lukas das Visum entzog und mit einer Abschiebung drohte, obwohl er kaum zwei Wochen später sowieso abgereist wäre, zeigt, dass die SPbGU möglicherweise ein Exempel statuieren wollte: In Russland darf man zwar gerne studieren, aber nicht kritisch über Politik und Umwelt schreiben.
von Hannah Steckelberg