Seit fünf Monaten protestieren die Menschen in Hongkong – doch der Alltag geht weiter.
Eine Austauschstudentin berichtet
Als ich entschied, mich um ein Auslandssemester in Hongkong zu bewerben, hatte ich zugegebenermaßen nur eine vage Vorstellung von der politischen Situation der Stadt: irgendwie ein Teil Chinas, irgendwie aber auch anders, freier. „Ein Land, zwei Systeme“, wird dieser Sonderstatus genannt. Er sollte der Stadt nach der britischen Kolonialzeit bis ins Jahr 2047 einen „hohen Grad an Autonomie“ zusichern, darunter ein unabhängiges Justizsystem und Schutz der Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Mit dem wachsenden Einfluss der chinesischen Regierung wurden diese Rechte in den vergangenen Jahren immer weiter beschnitten. Dabei identifizieren sich gerade in den jungen Generationen die Wenigsten mit dem chinesischen Festland.
Immer wieder kam es deswegen in der Vergangenheit zu Protesten: gegen die Einführung „patriotischer“ Schulbildung, gegen Zensurversuche und für freie Wahlen. Frustration und Ressentiments gegen die Pekinger Regierung sind damit schon lange Teil der Gesellschaft. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war ein geplantes Gesetz, das die Auslieferung von Verdächtigen an Festlandchina ermöglicht hätte. Zwei Millionen Menschen gingen Anfang Juni dagegen auf die Straßen. Was als friedlicher Protest begann, traf auf eine kompromisslose Regierung und eine zunehmend repressive Polizei. Die Forderungen weiteten sich auf die „Five Demands“ aus, die unter anderem eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt sowie ein allgemeines Wahlrecht fordern.
Inzwischen wurde das Auslieferungsgesetz zurückgezogen, bei den Protesten aber ist kein Ende in Sicht. „Five demands, not one less“, ist einer der vielen Protestrufe, die jeden Abend um 22 Uhr über meinen Campus und gleichzeitig in vielen anderen Vierteln aus den Hochhäusern schallen. So sind die Proteste im Hongkonger Alltag allgegenwärtig: Banner hängen von den Bergen der Stadt, Graffitis, Protestankündigungen, Memes und bunte Post-Its säumen die Wände und Straßen der Stadt. Alles, was man tut, wird begleitet von einem unübersichtlichen Strom an Nachrichten und Diskussionen in den sozialen Medien. Bestürzende Bilder von Polizeibrutalität und Berichte von sexuellen Übergriffen an Verhafteten gehen dabei ins Alltagsgeschäft über. Es ist dieser seit fünf Monaten andauernde Ausnahmezustand, der mit dem Alltäglichen verschmilzt, was mich am meisten beeindruckt.
Die großen Proteste finden vor allem am Wochenende statt, aber an den restlichen Tagen dominiert das Thema Freundesgruppen, spaltet Familienfeiern und flammt immer wieder im Unterricht auf. Die Spaltung der Gesellschaft in Regierungs-unterstützer und Protestanhänger macht jede Entscheidung zu einer politischen. Soll man U-Bahn fahren, obwohl diese mit dem Schließen von Stationen bei Protesten immer wieder die Regierung stützen? In ein Restaurant gehen, dessen Besitzer öffentlich Unterstützung für die Polizei geäußert hat? Längst gibt es Apps für Karten, die die Geschäfte der Stadt in gelb (Pro-Protestierende) und blau (Pro-Regierung) einteilen.
Aber auch die Gesellschaft habe sich verändert, erzählen mir meine Kommilitonen. Hongkong, bekannt als hochindividualisierte, kompetitive Stadt, hat durch die Bewegung einen neuen Gemeinschaftssinn gefunden. Bei den Protesten kümmern sie sich um Fremde, verteilen Wasser und Ausrüstung. Hongkonger aller Generationen und Gesellschaftsschichten sind stolz, Teil dieser Bewegung zu sein und gemeinsam für ihre Zukunft zu kämpfen. Was ist mit denjenigen, von denen sich diese Identität abgrenzt? Wie fühlen sich Studierende vom chinesischen Festland, die ihren Präsidenten auf dem Weg zum nächsten Kurs wortwörtlich mit Füßen treten müssen?
Während viele schlicht versuchen, den Protest zu ignorieren, treten andere dem aktiver entgegen und reißen nachts die Protestwände herunter. Am kompliziertesten ist die Situation wahrscheinlich für diejenigen Chinesen, die Hongkongs Kampf unterstützen. Zuhause müssen sie neben dem Unverständnis ihrer Eltern und Freunde die Kommunistische Partei fürchten. Diese stellt die Proteste in Hongkong als separatistische Aufstände und terroristische Akte dar, finanziert und arrangiert durch westliche Organisationen.
Inmitten dieses Aufeinanderprallens von Autoritarismus und Demokratie werde ich mir meiner eigenen Privilegien bewusst. Während ich bisher wenig mit dem Gedanken an den Erhalt meiner Freiheitsrechte konfrontiert wurde, haben meine Hongkonger Kommilitonen ein Ablaufdatum. Wie ihr Kampf ausgehen wird, kann niemand sagen. Aber tatenlos das Jahr 2047 abzuwarten, wenn Hongkong voll in das chinesische Festland integriert werden soll, stellt für wenige eine Option dar.
von Maria (Name von der Redaktion geändert)