Grüner Tee gegen Krebs? Wie sich der Lebensstil auf den Ausdruck der Gene auswirken könnte
Gen und Gesellschaft
In der Serie Gen und Gesellschaft lotet der ruprecht die Bedeutung genetischer Entdeckungen für das menschliche Zusammenleben aus. Diesmal widmen wir uns speziell dem aufkommenden Feld der Epigenetik mit seinen Einsichten und offenen Fragen. Bild: jjo[/box]
„Der Mensch ist seine Existenz“, behaupten die Hauptvertreter des französischen Existentialismus Simone de Beauvoir, Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Die Biologie hat andere Antworten parat. Der Mensch ist alles, was im DNA-Strang seiner Zellen steckt – aber auch noch mehr.Welches Aussehen und Verhalten eines Lebewesens an die Nachkommen der nächsten Generation vererbt werden, bestimmt laut Charles Darwin die Logik des „survival of the fittest“. Wer am besten an die Gegebenheiten der Natur angepasst ist, überlebt. Diese Anpassungen, zum Beispiel ein langer Hals für das Erreichen von Nahrung auf hohen Bäumen, setzen sich durch.
Bei der Epigenetik geht es um gleiche Gene, die unterschiedlich ausgedrückt werden. Die Vererbung geht in diesen Fällen auf Faktoren aus der Umwelt zurück. Epigenetik sieht man deshalb auch als Verbindung zwischen Genen und Umwelt. So kann es vorkommen, dass ein Zwilling anfällig ist für eine bestimmte Krankheit, der andere jedoch nicht.
Erlebnisse wirken sich auf die Genexpression aus
Konkret kann man sich das so vorstellen: Wenn epigenetische Markierungen auftreten, werden Gene mit bestimmten Funktionen entweder aktiviert oder deaktiviert. Sie werden sozusagen an- oder ausgeschaltet. Das funktioniert in den Zellen mithilfe zweier Mechanismen: der DNA-Methylierung und der Histon-Modifikation. Die Methylierung sorgt dafür, dass kleine Moleküle an den DNA-Strang andocken. Das Gen kann so nicht mehr „gelesen“ werden. Bei der Histon-Modifikation werden einzelne Gene aktiviert, indem erneut Moleküle, diesmal in Form von Acetylgruppen, an den Doppelhelix-Strang ansetzen. Der DNA-Strang wird somit gelockert, damit ein Gen an dieser Stelle gelesen werden kann.
Doch welche Umwelteinflüsse können nun die beiden epigenetischen Mechanismen auslösen? Eine Krankheitsstatistik in Japan hat ergeben, dass der Konsum von grünem Tee das Krebsrisiko senkt. Dies ist ein Effekt der Epigenetik, da ein im Tee enthaltener Stoff die Histon-Modifikation eines Gens bewirkt – es also wieder einschaltet, nachdem es sich bei der Mehrheit der Menschen bereits ausgeschaltet hat. Das neu aktivierte Gen hilft dann dabei, bestimmte Stoffe zur Bekämpfung von Krebs freizusetzen.
Auf ähnlichem Wege können Säugetiere ihre Nachkommen beeinflussen. Bei einem Experiment mit Ratten fanden Forscher heraus, dass die Kinder einer Ratte, die man stark unter Stress gesetzt hatte, ängstlicher waren als andere. Diese Übertragung eines Merkmals findet statt, ohne dass sich das Erbgut, also die DNA, verändert. Allein die Änderung in der Umwelt der Mutter hat das „neue“ Merkmal bewirkt. Es ist nur im epigenetischen Code zu erkennen.
Hungernde Eltern, übergewichtige Kinder
Auch beim Menschen gibt es derartige Fälle. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte holländische Hungerwinter von 1944 bis 1945. Die Kinder derjenigen, die den Winter überlebten, neigten im Erwachsenelter nachweislich zu Übergewicht. Die Mangelerscheinungen des Fötus im Mutterleib wirkten sich auf dessen Stoffwechsel aus und führten im Erwachsenenalter zu Übergewicht, Diabetes, einem hohen Cholesterinspiegel und diversen anderen Problemen. Das vererbte Merkmal war also eine direkte Antwort auf die Lebensbedingungen der Eltern.
Auch menschliche Beziehungen könnten zu diesen Einflüssen gehören. Wenn ein Neugeborenes nur wenig Nähe und Geborgenheit erfährt, kann sich dies in späterem Alter anhand von Stress- oder Bindungsproblemen zeigen. Doch das kann auch andere Gründe haben. Eltern und Kinder ähneln sich in allen Belangen, und das liegt meist eher an ihren genetischen Gemeinsamkeiten und auch etwas an der Sozialisation.
Die Epigenetik relativiert Darwins Evolutionstheorie, die auf natürliche Selektion hinaus will. Sie entspricht eher dem Kalkül des Naturforschers Lamarck, laut dem Eigenschaften im Laufe des Lebens erworben werden. Darwins Theorie verliert damit natürlich nicht ihre Gültigkeit – doch um das Thema Epigenetik wird es in naher Zukunft bestimmt nicht stiller.
Von Pauline Roßbach und Vivien Mirzai
Vivien Mirzai studiert Politikwissenschaften und Germanistik im Kulturvergleich seit dem Wintersemester 2019/20. Seit Oktober 2019 schreibt sie für den ruprecht über Wissenschaft, Internationales und Rassismus. Sie wechselt zum Wintersemester 2020 in die Ressortleitung Feuilleton.