Heiße Festplatten oder geschnittene Filmrollen: Braucht man noch Kino?
Pro
Es ist Sonntagnachmittag, schon dunkel, man war den ganzen Tag noch nicht draußen. Leicht verkatert oder nicht: Man möchte gerne etwas unternommen haben, bevor mit dem Montag auch der Alltag wieder anbricht. Langeweile und Depression machen sich sonst schneller breit als man „Kino“ sagen kann. Sich in die gemütlichen rubinroten Samtsessel gammeln, Popcorn süß-salzig oder Nachos snacken, und danach beim wintersonntäglichen Spaziergang nach Hause mit der Begleitung über den Film philosophieren, statt vom „Netflix“ sofort zum „Chill“ überzugehen, schlägt eindeutig jeden Streamingdienst in Puncto Stil. Der Film hat sich als Kunstform stets weiterentwickelt. Von „Kunst“ kann bei Erzeugnissen fließbandartig produzierender, Kapitalismus-schreiender Konzerne à la Netflix kaum mehr die Rede sein: Originalität bleibt auf der Strecke. Qualität über Quantität – diesem Prinzip lohnt es sich in der Cineastik treu zu bleiben. Film-Fantum lässt sich doch so viel gepflegter ausleben als mit Krümeln im Bett, dem nervenstrapazierenden Ladezeichen auf dem Screen und wochenendkonsumierenden Marathons – auch, wenn Serien-Sucht nun socially accepted ist. Ihr Produkt: eine Masse krankhaft individualistischer Eremiten. Freudig-flüsternde Anspannung bevor das Licht ausgeht und der Vorhang sich öffnet … Das kollektive Erlebnis; das Lachen, Weinen – alles ohne Handy in der Hand. Eintauchen in die Welt hinter der riesigen Leinwand; Heterotopie. Könntet ihr verantworten, wenn unsere Kinder nicht mehr wüssten, was Kino ist? Dass Kino auch ist, mit 13 im Schutz der Dunkelheit zum ersten Mal heimlich unter Herzrasen die Hand des Schwarms zu streifen? Also: Rettet das Kino!
Von Lara Stöckle
Contra
Stinkige Menschen, Schmatzgeräusche und Zeitverlust – liebevoll auch als Kino bezeichnet. Ja, lange Zeit mussten wir uns in Deutschland damit zufriedengeben, bei pappigem überteuertem Popcorn und mit dem knutschenden Pärchen neben uns zusammen in der Premiere zu hocken. Mittlerweile hat man endlich das Glück im Gammeloutfit mit Tee auf der Couch das fünfte mal Stranger Things rewatchen zu können. Nie wieder dem nervigen Kommilitonen im Kino über den Weg laufen oder gefühlt die halbe Spieldauer in Form von schlechter Werbung ertragen müssen. Diese geschenkte Zeit ist bei Netflix perfekt, um eben auch mal eine Pause einzulegen, ohne dass der Film im Saal stur weiterläuft. Netflix ist zeiteffizienter und deutlich freundlicher fürs Studentenportemmonnaie, vor allem wenn der Account zu viert geteilt wird (natürlich nur für Familien erlaubt *hust*). Außerdem kann der innere Filmkritiker einfach den Film wechseln, anstatt zu versuchen, über das Quatschen und gekünstelte Lachen von der Person ganz hinten rechts im Saal, etwas vom schlechten Filmdialog zu erahnen. Sind wir nicht lieber zu Hause, unterwegs oder im Hörsaal und schauen uns die nächste Episode an, wenn der Dozent mal wieder aus seinem Privatleben schwafelt? Die Giraffenmenschen, die sonst immer in der Reihe vor einem sitzen, versperren dort nämlich nicht den Blick auf den Laptop, sondern sind neidisch, wenn sie sehen, dass du schon die neue Staffel Brooklyn 99 geschaut hast. Da fiebern wir doch lieber gleichzeitig mit der ganzen Welt auf die neue Netflix Original Staffel hin. Denn haben wir es nicht alle satt, unsere Zeit damit zu verbringen unser Umfeld ausblenden zu müssen, um den Film wirklich genießen zu können?
Von Annika Beckers
Annika Beckers ist momentan im zweiten Semester ihres Anglistik und Politikwissenschaft Studiums. Seit 2019 ist sie Autorin beim ruprecht. Dabei berichtet sie sowohl über aktuelle Entwicklungen, als auch über kulturelle Themen.