Politik, Wirtschaft und Medien kümmern sich oft nicht um die Wahrheit. Mündige Bürger müssen aber Fakt und Fiktion unterscheiden können. Ein Leitfaden durchs Kuriositätenkabinett
Bullshit greift um sich. Politiker richten sich nicht mehr nach Fakten, viele Jobs erfüllen keinen richtigen Zweck. Selbst in den Universitäten, so scheint es, setzt man teilweise nicht mehr auf analytisches Denken, sondern auf die Aneinanderreihung von Bullshit.
Die meisten von uns können Bullshit erkennen, der in Worten verpackt ist – aber wie weit greifen unsere Fähigkeiten, wenn wir Zahlen, Daten und Graphen sehen? Um gegen den statistischen Analphabetismus anzukämpfen, haben Carl Bergstrom und Jevin West von der University of Washington das Projekt „Calling Bullshit“ ins Leben gerufen. Denn um statistische Lügen zu erkennen, so die Professoren, benötige man keinen Doktor in Mathematik, sondern nur etwas Vorbildung.
Bergstrom und West meinen mit Bullshit vor allem Statistiken und Grafiken, die überzeugen sollen, indem sie beeindrucken und überwältigen – ohne Rücksicht auf Wahrheit oder Logik. Ihnen geht es allerdings nicht um politisch rechten oder linken Bullshit: „Wir haben eine zivile Motivation“, schreiben die Professoren auf ihrer Homepage. Es gehe um das Überleben der liberalen Demokratie. Denn Demokratien haben sich immer auf kritisch denkende Wähler verlassen. In der heutigen Zeit von Fake News und alternativen Fakten werde es aber immer schwieriger, Fakt und Fiktion voneinander zu unterscheiden. Die einzige Möglichkeit sei, die Bürger im Erkennen von Bullshit zu schulen.
Bürger müssen Täuschung durchschauen können
Der Begriff des Bullshits hat eine lange Geschichte in der Wissenschaftstheorie. 1986 hat der US-amerikanische Philosoph Harry Frankfurt den Aufsatz On Bullshit veröffentlicht – und vermutlich als erster Philosophieprofessor überhaupt es gewagt, diesen Begriff öffentlich in den Mund zu nehmen. Während Lügner durchaus auf die Wahrheit achten und versuchen, sie zu verbergen, interessiert es den Bullshitter nicht, ob das, was er sagt, wahr ist. Ihm geht es nur darum, zu überzeugen.
Frankfurts Kollege Gerald Cohen stieg tiefer in die trübe Materie ein. Für ihn ist der Bullshitter egal; ihm geht es nur darum, ob die Aussage Bullshit ist. Da sich Cohen mehr für wissenschaftliche Literatur interessiert, ergänzt er eine weitere Kategorie: „unklare Unklarheit“, also Schriften, deren Gehalt unklar ist, der aber auch nicht geklärt werden kann.
Wie kann man Bullshit erkennen? Für all diejenigen, die keine Zeit haben, sich die Vorlesung anzuschauen: Keine Sorge, ich habe mir das angetan. Es folgt ein Crashkurs.
Tipp 1: Wenn Du die Frage beim Kauf eines Autos stellen würdest, dann solltest Du sie auch bezüglich einer Information stellen. Wer sagt mir das? Woher weiß er das? Was versucht er, mir zu verkaufen?
Tipp 2: Überprüfe die Primärquellen. Wenn Du das Gefühl hast, dass etwas zu gut ist, um wahr zu sein, dann ist es wahrscheinlich auch nicht wahr. Bergstrom weist auf eine Studie hin, welche die Empfehlungsschreiben für männliche und weibliche Studierende verglich. Die Forscher gingen zunächst davon aus, dass die Empfehlungsschreiben für Männer mehr Wörter wie „talentiert“ und „intelligent“ enthielten, die für Frauen mehr Wörter wie „fleißig“ und „gewissenhaft“. Obwohl die Forscher keine Belege für die These fanden, haben viele Leser die Hypothese getwittert – nicht aber das Resultat der Studie.
Bergstrom erzählt, ihm sei einmal eine Karte untergekommen, die angeblich alle Terroranschläge in Europa mit Punkten markierte. Da Polen strenge Einwanderungsgesetze habe und keine Punkte aufwies, folgerten die Autoren der Karte, dass Einwanderung und Terror miteinander verbunden sind. Tatsächlich entsprachen die Punkte auf der Karte nicht den tatsächlichen Anschlägen. Es lohne sich also immer, die Primärquellen zu überprüfen.
Tipp 3: Graphen sollen Geschichten erzählen, deswegen solltest Du da besonders aufpassen. Schon kleine Entscheidungen über den Bereich der Achsen in einem Balkendiagramm können einen großen Einfluss auf die Botschaft haben. Daher solltest Du Dich fragen, ob der Graph die Daten tatsächlich korrekt widerspiegelt. Ein beliebter Trick bei Säulendiagrammen ist, die Achsen nicht auf Null enden zu lassen, um Unterschiede künstlich zu vergrößern.
Journals drucken haarsträubenden Unsinn
Tipp 4: Normalerweise wissen wir, dass wir nicht alles, was wir lesen, glauben sollen. Im Studium vergessen wir diese Regel leider viel zu oft, wenn wir wissenschaftliche Artikel lesen. Denn dass eine Studie veröffentlicht wurde, bedeutet nicht, dass sie auch korrekt ist.
Das zeigt beispielsweise die „Grievance Studies“-Affäre. Drei US-amerikanische Wissenschaftler haben von 2017 bis 2018 unter Pseudonymen insgesamt 20 Artikel in Journals eingereicht, um deren Peer-Review-Praxis zu prüfen. Zum Zeitpunkt der Aufdeckung der Affäre waren vier Artikel veröffentlicht und drei weitere zur Veröffentlichung angenommen. Ein Artikel wurde von der Zeitschrift wegen seiner herausragenden Qualität besonders gelobt. Darin behaupten die Autoren, das Verhalten von Hunden in Parks sei einer „Rape Culture“ ähnlich. Auch das Verhalten männlicher Homo sapiens könne man wie bei einer Hundedressur ändern. Doch damit nicht genug: Going in Through the Back Door legt nahe, dass Männer ihre Homophobie durch das anale Einführen von Gegenständen verringern könnten. Ein weiterer Artikel – Our Struggle is My Struggle – ist eine feministisch umgeschriebene Version von Mein Kampf.
Üblicherweise gehören Peer-Review-Verfahren zum Veröffentlichungsprozess dazu. Sie können aber leider nicht garantieren, dass wissenschaftliche Arbeiten korrekt sind. Peer-Reviewer lesen Artikel meist sorgfältig, um die Methode, die Ergebnisse und die Interpretation zu beurteilen.
Einerseits spielt die Reputation von Zeitschriften oder Autoren theoretisch keine Rolle, wenn es darum geht, die Legitimität zu beurteilen. Andererseits ist die Arbeit eines Forschers mit einem guten Ruf oder umfangreichen Publikationen glaubwürdiger, ebenso wie Artikel in weithin zitierten Journals. Darüber hinaus können wir in Erfahrung bringen, ob die Forscher ein finanzielles Interesse an positiven Ergebnissen haben – wenn sie etwa mit Unternehmen zusammenarbeiten, die von den Ergebnissen einer Studie profitieren würden.
Tipp 5: Verzweifle nicht! Bullshit kann überwältigend sein angesichts der Flut von Fake News. Trotzdem: Unsere Wissenschaft funktioniert – sonst hätten wir weder Medizin noch Internet. Ähnliches gilt auch für die Politik. Einige Politiker mögen Bullshitter sein. Die Skandale scheinen sich zu häufen. Noch halten die Abwehrkräfte unserer Systeme jedoch aus.
Von Eduard Ebert