[post-carousel id=“17511″][post-carousel id=“17511″]Wenn der Schuh drückt, aber ein neuer zu teuer ist: Auch BAföG und Minijob sind kein Garant für
finanzielle Sicherheit. Wie nah Studierende am Existenzminimum leben, bleibt oft unausgesprochen
Über Geld spricht man nicht“, ermahnten einen die Eltern und Großeltern regelmäßig. Seitdem verhindert diese stumm befolgte Regel wie eine unsichtbare Wand jedes Gespräch über das heikle Thema. Dabei scheint gerade jetzt die Zeit gekommen zu sein, unangenehme Wahrheiten auszusprechen: Es wird lautstark über den Klimawandel debattiert, wir reden Klartext über psychische Gesundheit und auch Sexismus liegt längst offen auf dem Tisch. Unsere finanzielle Situation, sowie die unserer Familien behalten wir dagegen lieber für uns – selbst im engen Freundeskreis.
Auch Paul* erzählt nur anonym von seinen Lebensumständen und das, obwohl er Geldsorgen höchstens aus Erzählungen kennt. Das Studium an einer privaten Hochschule war zu Hause nicht der Rede wert, die monatlichen Gebühren in Höhe von 660 Euro übernehmen seine Eltern gerne. Eine schöne Wohnung mitten in der Mannheimer Innenstadt, schicke Designer-Klamotten und morgens mit dem eigenen BMW zur Uni – mit 1 500 Euro Unterhalt im Monat ist das alles kein Problem.
Die Regel ist das unter Studierenden nicht. Für viele ist die Frage, wie sie mehrere Jahre ohne eigenes Einkommen finanzieren sollen, durchaus keine banale. Vor allem für Abiturienten und Abiturientinnen, die aus Arbeiterhaushalten oder sozial schwachen Familien an die Hochschulen kommen, wird die undurchsichtige Informationslage zu Finanzierungsmöglichkeiten oft zur Hürde.
Für viele die erste Anlaufstelle: das BAföG-Amt. Laut der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks aus dem Jahr 2016 erhält rund ein Fünftel der Studierenden in Deutschland BAföG, in den letzten Jahren war die Zahl rückläufig. Auch Anna* wusste, dass sie das Studium nicht ohne die staatliche Förderung stemmen können würde und gab im August 2017 mit der frisch angekommenen Immatrikulationsbescheinigung ihren Antrag ab. So weit, so gut. Doch da Anna ihren Vater nicht kennt und seinen genauen Aufenthaltsort in Russland weder nennen noch herausfinden konnte, zog und zog sich die Bearbeitung ihres Antrags. Im Dezember befand sich das Geld schließlich auf ihrem Konto.
„Man muss ehrlicherweise sagen, dass ein BAföG-Antrag nicht die einfachste Sache der Welt ist“, gibt Elisabeth Herold vom Studierendenwerk Heidelberg zu. Im Schnitt dauert das Ausfüllen des Antrags fünfeinhalb Stunden. Der damit verbundene Aufwand sowie die Komplexität des Verfahrens seien immer noch Hemmschwellen für viele Studierende, die eigentlich einen Anspruch auf Förderung hätten: „Gerade aus diesem Grund muss man beim BAföG über generelle Vereinfachungen bei der Beantragung, aber auch bei der Bearbeitung sprechen“, so Herold.
Doch auch das staatliche Förderungsgeld ist kein Garant für ein sorgenfreies Studium. Laut der So-zialerhebung 2016 gab rund ein Drittel der Studierenden an, während des Studiums jobben zu müssen, um sich finanzieren zu können. „Würde ich nicht arbeiten, würde mir das wahrscheinlich nicht reichen“, kommentiert auch Anna ihren BAföG-Betrag. Sie bekommt den gesetzlich festgelegten Höchstsatz.
Das nette Klischee, dass Studierende kein Geld in der Tasche haben, wird dort zum bitteren Ernst, wo es nicht mehr darum geht, in der Unteren ein Bier weniger zu trinken, sondern darum, wie das Mittagessen bezahlt werden soll. „Für mich gab’s immer die Luxusklasse der Studierenden: Die, die in die Mensa gehen, ein Semesterticket haben, Sprachkurse belegen“, erzählt Alex* von seinen Eindrücken zu Studienbeginn. Er dagegen schmierte sich täglich Brote für die Mittagspause und fuhr bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad vom Wohnheim in die Vorlesung.
Für Engpässe in der alltäglichen Versorgung, wie sie auch Alex erfahren hat, vergibt das Studierendenwerk sogenannte Freitische für kostenloses Mensaessen. Außerdem können BAföG-Empfänger und Empfängerinnen im Diakonieladen Brot & Salz vergünstigt einkaufen. Bisher nutzen diese Angebote nur sehr wenige; ein möglicher Grund ist der beschämte Gedanke, der auch Alex davon abhielt, Foodsharing in Anspruch zu nehmen: „Ich glaube, dass es Leute gibt, die es nötiger haben als ich.“
Aus einer Arbeiterfamilie mit Migrationshintergrund stammend, sind er und seine Schwester die Ersten, die studieren. Dass man sich unter den vielen Akademikerkindern verloren fühlen kann, haben auch sie erfahren. „Es ist halt eine andere Lebenswelt“, sagt Alex. Vielen mangelt es daher an Verständnis: Schockiertes Nachfragen bezüglich seines mitgebrachten Mittagessens hier, ein abfälliger Verweis auf seine Zugehörigkeit zum „Lumpenproletariat“ da. Auch bei der Bewerbung für ein Stipendium erfuhr Alex, wie wenig diese auf tatsächlich Bedürftige ausgerichtet sind. Die Fahrtkosten quer durch Deutschland musste er selbst zahlen – für Kandidaten und Kandidatinnen aus gut gestellten Familien kein Problem. Bei solchen leistungsbezogenen Studienförderungen scheine mal wieder „Akademiker-Reproduktion“ betrieben zu werden, kritisiert Alex das Verfahren. Das Stipendium hat er bekommen.
Für Studierende wie Alex ist der Alltag oft eine Gratwanderung. Wer nebenbei in mehreren Minijobs arbeiten und jeden Cent umdrehen muss, kann oft nicht die angedachten Leistungen pro Semester stemmen. Die Konsequenz: das Überschreiten der Regelstudienzeit.
Wie schnell man so durch das Raster fallen kann, zeigt Elenas* Geschichte. Auch sie konnte ihr Studium bisher durch BAföG finanzieren, doch dieses ist an Bedingungen geknüpft: Mit Überschreitung der vorgeschriebenen sechs Bachelorsemester verfiel ihr Anspruch auf Förderung – und der Platz im Studierendenwohnheim.
Gewöhnlich kann die Mietdauer in Wohnheimen durch das Erledigen von Hausmeistertätigkeiten verlängert werden, allerdings kam es in Elenas Fall durch Fristversäumnisse und Fehlkommunikation mit der Verwaltung zu einer fristlosen Kündigung. Elena war wohnungslos. Sie hatte das Glück, von ihren Heidelberger Freunden und Freundinnen aufgefangen zu werden, die ihr eine Bleibe boten und Geld liehen. Ohne deren Unterstützung hätte sie keinen Ausweg gewusst. „Im allerschlimmsten Fall wäre ich wirklich obdachlos geworden oder ich hätte zu meinen Eltern zurückgemusst – das bedeutet: Studium abbrechen“, mutmaßt sie.
Auch Anna bangt um ihren neuen BAföG-Antrag, den sie nun nach einem doppelten Fachwechsel gestellt hat. Was, wenn die Entscheidung diesmal negativ ausfällt? „Einen Plan B habe ich nicht, keine Ahnung, wie es dann weitergeht.“ Der Gedanke, ein Urlaubssemester einzulegen, um in Vollzeit in der Gastronomie zu arbeiten und so den Rest des Studiums zu finanzieren, begleitet sie schon eine Weile.
Elena hat nun nach einem Monat der Ungewissheit wieder einen festen Wohnsitz; bis das erste Gehalt ihres neuen Jobs auf dem Konto ist, bleibt das Geld jedoch knapp. Sie greift daher zu einem drastischen Geldbeschaffungsmittel: Zweimal pro Woche spendet sie für 20 Euro Blutplasma – das ist die höchste erlaubte und gesundheitlich zumutbare Spendefrequenz. Die Universität und das Sozialreferat des Studierendenrates bieten zwar Notlagenstipendien an, diese werden allerdings nur in unverschuldeten finanziellen Engpässen bewilligt – ein Umstand, der Elena ausschloss.
Hört man Alex’, Annas und Elenas Geschichten, macht das betroffen. Vor allem, weil wir denken, dass es doch immer ein Auffangnetz gibt. „Dann heißt es: Wir leben doch in Deutschland, uns geht’s doch gut“, merkt Alex an. Doch als Studierender hilft auch der Gang auf das Sozialamt meistens nichts: Wer prinzipiell Anspruch auf BAföG hat, kann außer in Härtefällen weder auf Wohngeld noch andere Grundsicherungsleistungen hoffen. In der Regel werden Studierende in Notlagen daher auf die Sozialberatung des Studierendenwerkes verwiesen, die eine umfassende Auskunft über Studienfinanzierungsangebote bereitstellt. Auch die ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Sozialreferat des StuRas machen es sich zur Aufgabe, Studierende über ihre Möglichkeiten zu informieren: „Wir sind da, wo wir können“, verspricht Vorsitzende Sara Tot.
Das Problem: Armut ist immer auch mit Scham behaftet. Wer sich Hilfe sucht, muss seine Notlage öffentlich machen und über seine Situation offen sprechen. „Ich hatte keine Anlaufstellen und wenn es Anlaufstellen gab, war es meistens zu peinlich, darüber zu reden“, gibt Alex zu. Auch Elena erkennt rückblickend den Versuch, sich anzuziehen „als ob alles läuft“ – ein instinktiver Akt der Abgrenzung vom Label „Obdachlosigkeit“. „Wenn du offen zugibst, dass du finanzielle Probleme hast, dann bist du schnell abgestempelt: als Verlierer, als irgendwer, der es nicht geschafft hat, der nicht in die Gesellschaft reinpasst“, meint Elena. Und: Die Erfahrung habe sie Verständnis für Menschen gelehrt, denen derlei passiert.
Unter dem Titel „Reich an unsichtbarer Armut“ veranstaltete das Bündnis gegen Armut und Ausgrenzung im Oktober eine Aktionswoche, um auf Missstände aufmerksam zu machen und einen Ort des Austauschs zu bieten. Heidelberg sei sehr damit beschäftigt, stolz auf sich zu sein. „Wichtig ist, sich nicht von einem Stadt-Image blenden zu lassen und immer wieder an die Ränder zu schauen“, appelliert Christof Heimpel, ein Sprecher des Bündnisses.
Es ist das Schweigen und das Wegsehen, was überwunden werden muss. Solange Geld ein Tabuthema ist, bleiben die Vorurteile, bleiben die unangenehmen Ausweichmanöver im Gespräch, bleibt die Einsamkeit der Betroffenen, die auch in diesem Artikel wieder einmal anonym bleiben wollten.
von Cosima Macco und Lara Stöckle