Ein feiner Mensch ist, wer auf Charity-Galas geht, dort Lachsröllchen verspeist und währenddessen sein oder ihr Geld für sich arbeiten lässt – wenn man dem Neoliberalismus glaubt. So nicht Claus von Wagner, er hält von dieser Konzeption einer guten, reinen und erfolgreichen Person wenig und erklärt in seinem Kabarett „Theorie der feinen Menschen“ den Lug und Trug dahinter. Der Titel der Show lehnt an den gleichnamigen soziologischen Bestseller von Thorstein Veblen an, dem Vorläufer der Theorie Bourdieus, die sich mit Klassen, die sich durch ihren Habitus von den anderen abgrenzen, beschäftigt. Im November unterhielt er auch Heidelberger Anhängerinnen und Anhänger des Witzes im Augustinum im Emmertsgrund. Das Kulturfenster bot hierfür den Rahmen mit ihrem Kabarettherbst „denke.schön“. Herr von Wagners Auftritt fand in etwa zur Halbzeit der Veranstaltungsreihe statt, die vom 7.November. bis 14.Dezember. läuft.
Mit einem Knall, der das Schließen einer Tresortür veranschaulichen soll, beginnt das Programm. Direkt darauf klingelt ein Telefon, nicht das eines Gastes, sondern das auf der Bühne, das der Satiriker heute noch oft benutzen wird. Er hebt ab und schildert dem Sicherheitsmann der Bank seine Lage: er ist im Tresorraum einer Bank eingesperrt und kann erst am nächsten Morgen mit Hilfe rechnen. Der Grund, weshalb er überhaupt erst in diese Lage geriet, ist dass sich dort unten der Nachlass seines kürzlich gestorbenen Vaters befindet. Dieses begutachtet er, um sich für die Trauerrede, die er am nächsten Tag halten soll, zu inspirieren.
Von dieser Handlung ist nicht direkt auf das eigentliche Thema, die Finanz- und Wirtschaftswelt, zu schließen. Das Bindeglied ist der Vater: er war Wirtschaftsprüfer, und waschechter Kapitalist nach dem Vorbild des Begründers des Kapitalismus, Adam Smith. Zu seinem Vater hatte der Protagonist ein konfliktives, ambivalentes Verhältnis. Besonders liebevoll waren sie nicht miteinander und doch sieht der Sohn dabei zu, wie er zu seinem Elternteil wird, das er am wenigsten mochte. Schließlich ist nicht alles, was er predigt moralisch gut. Ebenso wenig wie alles, was sein Vater für richtig hält, schlecht ist. Der Vater steht klar für den Kapitalismus, der Sohn für ein anderes System. Damit ist nicht etwa der Kommunismus als Gegenentwurf gemeint. Heraushören lässt sich aber, dass es darum geht, dem ungezügelten Kapitalismus Zügel anzulegen – sofern das überhaupt möglich ist.
Im Rahmen dieser Handlung echauffiert sich Claus von Wagner fast drei Stunden lang über das Finanz- und Wirtschaftswesen, seiner Meinung nach Parallelwelten. Wenn er seine Familienmitglieder, die sich gerne auf Galas und Golfplätzen herumtreiben beschreibt, denkt man als Zuschauerin, man hätte es mit den Goldmans und Sachs der Postmoderne zu tun. Es sei kein Zufall, dass Otto- oder Sabine-Normalverbraucher keine Ahnung mehr davon hätten, was in den Hochhäusern Frankfurts oder Luxemburgs so abgeht. Mit coolen, fancy und möglichst englisch klingenden Begriffen für die unspektakulärsten Dinge heben sie sich bewusst ab. Denn „Machtausübung funktioniert am besten, wenn die, auf die Macht ausgeübt wird, nicht wissen, dass Macht auf sie ausgeübt wird“, so von Wagner. Beispielhaft erklärt er den Begriff des „Finanzderivats“, dessen Bedeutung um Weiten grundlegender und unkomplizierter ist, als es den Anschein macht. Insgesamt sei die gesamte Funktionsweise der Finanzwelt fern von aller Logik. Prognosen würden sowieso nie stimmen, siehe Griechenland, und das BIP sage sowieso nichts über irgendetwas aus. „Das BIP ist eine merkwürdige Zahl, um das Glück der Bürger zu messen“, kommentiert er das pervertierte Eifern nach dem nächsthöchsten BIP. Ohne das Ehrenamt, soziale Ungleichheit oder die viele Care-Arbeit von Frauen einzubeziehen, kämen wir einem Indikator für Glück oder Wohlstand nicht näher. Dass das BIP eine trockene, abstrakte und wenig aussagende Einheit ist, zeigt er an folgendem hypothetischen Beispiel: Gehen sich zwei Brillenträger prügeln mit dem Resultat, sich danach eine neue Brille kaufen zu müssen, so steigt das BIP. Ohne, dass es dadurch jemandem besser gehen würde. Wer Dreck macht, um danach aufzuräumen würde demnach eben auch Arbeitsplätze schaffen, auch in von Wagners Augen eine große Keule, die die GroKo gerne schwinge.
Bei all der Aufregung über die Wirtschaft kommen aber auch Politik und Medien nicht ohne ein blaues Auge davon. „Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Markus Söder und der NASA ist“, fragt er beispielsweise, und antwortet: „Die NASA hat ein Kontrollzentrum.“ Aus Angela Merkels Einschätzung, Politik sei, „was möglich ist“, zieht er den Schluss, sie sei politisch gescheitert. Denn Politik sei eben viel mehr als das, man müsse Dinge möglich machen. Allgemein klingt aus seinen Ausführungen heraus, dass die Politik sehr unambitioniert darin geworden ist, sich sozialen Problemen zu widmen, da sie zu sehr damit beschäftigt ist, nach der Pfeife der Wirtschaft zu tanzen. Beispielweise stecke „Andreas Scheuer tief im Arsch der Autoindustrie“, vulgär ausgedrückt trifft es das Problem wohl doch sehr gut auf den Punkt.
Wenn man eine universelle Botschaft aus dem Auftritt Claus von Wagners ziehen möchte, wäre es, zu hinterfragen, ob wir weiterhin alles dem Wirtschaftlichen unterordnen sollen. In vielen Beispielen stellt er korrekt fest, wie unterwürfig die Gesellschaft der Wirtschaft ist. So schaffe es die Weltgemeinschaft nicht, „für Flüchtlingshilfe fünf Milliarden Dollar aufzubringen, für die Bankenrettung machen sie so einen Betrag an einem Wochenende locker.“ Das eigennützige Denken beginne aber im System: „Die Finanzkrise kann nicht mit individueller Gier erklärt werden. […] Die Anreize sind so gesetzt, dass es innerhalb des Finanzsystems vernünftig ist, sich gierig zu verhalten.“ Doch so müsse es gar nicht laufen. Von vorne herein war es selbst nach Adam Smith nicht gedacht, dem Kapitalismus freien Lauf zu lassen, um alles Soziale und Humanitäre zu annektieren. Die von ihm konzeptualisierte „unsichtbare Hand des Marktes“ funktioniere nur, wenn der Staat stark sei, so ist es in seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“ zu lesen. „Die FDP hat bis heute nur den ersten Teil des Buches von Adam Smith gelesen“, erst danach folgt nämlich die Forderung nach Grenzen für die Marktwirtschaft.
Als er seine Rolle verlässt und wieder zu Claus von Wagner wird, will er ein paar wichtige Fragen im Plenum klären, um bei der anschließenden Autogrammrunde nicht zehnmal dieselbe Frage gestellt zu bekommen. Dazu gehört, dass er oft nach dem autobiographischen Wahrheitsgehalt der Story gefragt wird. Er erklärt, dass etwa 95 Prozent des Inhalts frei erfunden sind, beispielsweise ist sein Vater gar nicht tot. Zu den übrigen fünf Prozent gehört ein zum schmunzeln anregendes Foto, auf das er uns einen Blick werfen lässt. Darauf zu sehen ist er selbst, an einem Strand, als Baby, beim Pinkeln, nackt. Zuvor hat er sich in seiner Rolle als Sohn eines Finanzhais darüber aufgeregt, dass dieses Bild die kahlen Bürowände seines Vaters schmückt. Bei tosendem Gelächter und Applaus stürmt er davon, um im Foyer Bücher und Karten mit seiner Unterschrift zu verzieren und mit dem ein oder anderen Gast zu plaudern.
Claus von Wagners Programm ist ein Dauerbrenner, und das nicht ohne Grund. Seit vielen Jahren reist er damit quer durch Deutschland, ohne dass es seine Aktualität verlieren würde. Zwar werden regelmäßig neue Witze aufgenommen, die sich mit zeitgemäßen Problemlagen auseinandersetzen, doch die Kernaussage bleibt: die Wirtschafts- und Finanzwelt sind von jeder bürgerlichen Realität losgekoppelt. Gerade bei den aktuellen Warnungen vor einer Rezession könnte man sich mit Claus von Wagners Show beruhigen. So oder so trifft er den Nagel auf den Kopf, gewitzt und faktisch belegt.
Von Xenia Miller
- Der Kabarettherbst läuft noch ein paar Tage, Infos und Termine findet Ihr unter: https://www.kulturfenster.de/taxonomy/term/30
- Auch Claus von Wagners „Die Anstalt“-Kollege Max Uthoff kommt am 27. März 2020 nach Heidelberg, Tickets und Infos gibt es unter: https://www.kulturfenster.de/erwachsene/kleinkunstbuehne/max-uthoff-0
- In unserer Printausgabe, die am 10. Dezember erscheint, findet Ihr ein ausführliches Interview mit Claus von Wagner. Darin reißt er die Probleme der Wiedervereinigung an und erzählt, wie er es schafft, nicht an der Politik zu verzweifeln.
Xenia Miller studiert Politikwissenschaften und Soziologie und schreibt seit Sommersemester 2018 für den ruprecht. Sie schreibt von verkalktem Trinkwasser über Kabarettist*innen und Autor*innen bis hin zu Drachenbootfahren über alles, was sie so interessiert. Herzensthema bleibt natürlich die Politik. Im Wintersemester 19/20 leitete sie das Ressort Weltweit, seit Sommersemester 2020 das Ressort Heidelberg als Doppelspitze.