Ich wurde von hinten am Kopf gepackt und mir wurde die Kippa abgerissen, dann wurde ich als dreckiger Jude beleidigt.“ Was wie ein Bericht aus dem Dritten Reich klingt, ist erst diesen November in Freiburg geschehen. Elias* ist jüdisch und studiert in Freiburg Französisch und Politikwissenschaft. Er wurde in der Umkleide eines Fitnessstudios attackiert. Seine Kippa, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung, wurde abgerissen, bespuckt und in den Müll geworfen. Schließlich schrie der Täter „Free Palestine“. Geholfen wurde Elias zunächst nicht. „Es waren auch Leute da in der Umkleide – und keiner hat irgendetwas gemacht.“ Erst nach dem Angriff wurde Elias von einem älteren Herren geholfen, der zufällig in den Raum gekommen war. Nach der Attacke rief Elias die Polizei. Für die Unterstützung des älteren Herren und den späteren Beistand durch das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk, von dem er bereits vor der Attacke als Stipendiat gefördert wurde, ist Elias sehr dankbar; von seinen Mitbürgern hatte er aber mehr Zivilcourage erwartet. Elias’ Erfahrung, das Attentat von Halle und die Schändung von jüdischen Gräbern im Elsass Anfang Dezember zeigen: Antisemitismus gehört nicht der Vergangenheit an.
Auch in Heidelberg ist Antisemitismus ein aktuelles Thema – häufig beginnt er schon in der Schule. David*, ein Heidelberger Anglistikstudent, meint, dass hinter Antisemitismus häufig eine Wahrnehmung von jüdischen Mitmenschen als andersartig liege. „Aus diesem Gefühl der Fremdheit entwickelt sich dann Hass, das geht schon mit Beleidigungen als ‚du Jude‘ in der Schule los.“ Laut dem Heidelberger Rabbiner Jona Pawelczyk‑Kissin sind solche Schulhofbeleidigungen verwerflich, aber nur ein Symptom des eigentlichen Problems. Wirklich antisemitische Erfahrungen hätten manche „jüdische Kinder ausschließlich mit Lehrern gemacht,“ so der Rabbiner. Eine Schülerin sei beispielsweise an einem Feiertag, an dem es verboten ist, zu schreiben, in die Schule gegangen, da sie den Unterricht nicht verpassen wollte. „Sie hat dem Lehrer erklärt ‚Wissen Sie, wir haben heute einen jüdischen Feiertag. Ich bin gekommen, um alles noch mitzubekommen für die Klassenarbeit, aber ich darf heute nicht schreiben.‘ Und da sagte der Lehrer so, dass alle es hören konnten: ‚Was habt ihr denn für eine blöde Religion!‘ Ich muss sagen, dass das Mädchen davon traumatisiert ist.“
Solche Erfahrungen beschränken sich nicht auf die Schule. Die Heidelberger Lateinstudentin Chaja* beschreibt, wie sich aus dem Bild der angeblichen Andersartigkeit von Juden Antisemitismus entwickeln kann. Sie berichtet von den Kommentaren der Mutter ihres Ex-Partners, diese habe sie wegen ihrer Religion zunächst kritisch betrachtet. So habe Chaja damals wegen einer anstehenden Klausur mehr lernen müssen als sonst. Darauf sei ihr gesagt worden, Juden „sind halt komisch, die sind halt anders“. Allerdings sei es nicht bei einfachen Stereotypen geblieben. „Sie meinte dann ‚Wenn du sie heiratest, werde ich dich enterben, und wenn du Kinder mit ihr hast, nehme ich sie nicht als meine Enkelkinder an. Und überhaupt: Wenn Hitler damals alle getötet hätte, dann hätte ich jetzt meine Probleme nicht.‘“
Solche antisemitischen Aussagen eskalieren oft in Straftaten: Laut einem Bericht des Bundesministerium des Inneren (BMI) von 2017 sei es von den Jahren 2001 bis 2015 pro Jahr durchschnittlich zu 1522 antisemitischen Straftaten gekommen, davon jährlich 44 Gewalttaten. Auf eine erste Anfrage vom 22. November 2019 zu genauen Daten aus Heidelberg antwortete das Polizeipräsidium Mannheim nach zweieinhalb Wochen: „Die Recherche zu den gestellten Fragen ist sehr umfangreich und eine Rückmeldung in dem genannten Zeitraum nicht möglich.” Auch die Statistik des BMI stützt sich auf Daten der Polizei. Genaue Zahlen zu ermitteln, sei schwierig, da viele Opfer antisemitischer Vorfälle diese nicht anzeigen würden. 2013 meldeten laut BMI nur 23 Prozent der Opfer einer schweren Straftat den Vorfall bei der Polizei, 47 Prozent derer im Glauben, es würde sowieso nichts bringen. Besonders in den Jahren, in denen sich der Israel-Palästina-Konflikt zuspitzte, habe es einen Anstieg an Straftaten gegeben. Diese wurden überwiegend von Linksextremisten verübt. Insgesamt sei aber eine Mehrheit an rechtsmotivierten Taten festzustellen: Laut dem BMI wurden in den Jahren 2010 bis 2013 insgesamt 139 rechtsextreme Gewalttaten gemeldet, alle anderen Kategorien zusammen kamen nur auf 18.
Wo aber findet solcher Antisemitismus seinen Ursprung? Die Historikerin und Holocaust-Forscherin Deborah Lipstadt nennt bei ihrem Vortrag in Heidelberg drei Attribute, auf denen Antisemitismus basiere: Geldgier, Gerissenheit und Macht.
Das Vorurteil der jüdischen Geldgier finde seinen Ursprung in der Geschichte. Dabei gehe es laut Lipstadt darum, dass Juden in diesem Narrativ nicht auf „moralischem“ Weg an ihr Reichtum gekommen seien, sondern durch Raffgier und Skrupellosigkeit. Auch heute sei dies ein Klischee, welches viele, meist sogar unterbewusst, mit dem Judentum verbinden.
Der Stereotyp der Gerissenheit ist ebenso weit verbreitet. Den Juden wird List und Bösartigkeit unterstellt – sie seien dazu in der Lage, jede andere gesellschaftliche Gruppe zu manipulieren. Hier findet auch die rechte Verschwörungstheorie der jüdischen Weltherrschaft ihren Ursprung.
Die angebliche Macht der Juden zeige sich darin, dass es diese vermeintliche „jüdische Verschwörung“ trotz ihrer vergleichsweise kleinen Zahl schaffe, ihre Ziele global durchzusetzen. Der Jude wird hier laut Lipstadt mit dem Teufel gleichgesetzt, er sei die Ursache alles Bösen.
Solche Stereotype führen laut Lipstadt zu Gewalttaten, wie in Halle. Es muss aber nicht immer auf die Extreme hinauslaufen, vielerorts findet Antisemitismus hinter verschlossenen Türen statt. „Es beginnt immer mit Worten,“ betont Lipstadt, sie spricht von „Dinner-Party-Antisemiten“. So harmlos wie diese vielleicht scheinen mögen, machen sie ganz nebenbei, etwa durch unbedachte Kommentare beim Abendessen, Antisemitismus salonfähig. Auch „Kochlöffel Antisemiten“, abgeleitet aus der englischen Phrase „to stir the pot“ (zu Deutsch etwa „Öl ins Feuer gießen“), sind nicht gewalttätig gegenüber Juden, verleiten aber bewusst andere zu Gewalttaten, indem sie deren Antisemitismus bestätigen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Politiker, die unterschwellig antisemitische Botschaften verbreiten.
Laut Rabbiner Pawelczyk‑Kissin geht Antisemitismus – abgesehen von Stereotypen – oft mit sogenannter „Israelkritik“ einher. Hier wird häufig, wie auch bei der Attacke in Freiburg, das Judentum mit dem Staat Israel gleichgesetzt. David erklärt hierzu: „Man hört häufig solche Sachen wie ‚Eigentlich mag ich ja die Juden, aber Israel sehe ich schon kritisch.’ Zum einen frage ich mich, wer die Juden sein sollen – wir sind ja nicht alle gleich. Abgesehen davon sehe ich die israelische Politik selbst häufig kritisch. Judentum und die israelische Regierung sind aber doch zwei verschiedene Dinge.“
Auch Lipstadt sieht Probleme in der Israelkritik: Oft sagen Menschen ihr, sie würden den Staat aufgrund seiner Gründungsgeschichte nicht unterstützen. Allerdings, betont Lipstadt, sehe sie niemanden, der aus den gleichen Gründen die USA boykottiert. Den Ursprung für die Kritik sieht Pawelczyk‑Kissin bei einer unverhältnismäßig kritischen Betrachtung Israels in den Medien: „Das Problem ist nicht, wie man zur Politik der jeweiligen israelischen Regierung steht, die darf man ja durchaus auch kritisieren…aber Israelkritik, das Wort an sich – es gibt ja keine Frankreichkritik oder Brasilienkritik und auch nicht Syrienkritik.“ Für den Rabbiner ist klar: „Da steckt schon etwas drinnen, in diesem Wort: Dass man der Meinung ist, da ist grundsätzlich etwas faul an diesem ganzen Israelding. Das heißt also, an sich hat der Staat Israel doch keine Existenzberechtigung.“ Diese verzerrte mediale Darstellung sieht der Rabbiner als Nährboden für Antisemitismus. Die Kritik der Regierung werde zum Hass des Landes, der Hass des Landes schließlich zur Verachtung des jüdischen Individuums.
Was aber lässt sich gegen Antisemitismus tun? Laut Pawelczyk‑Kissin liegt die Verantwortung neben den Medien vor allem beim Staat. Für ihn ist die Schulung von Lehrern die einzige Möglichkeit, um Antisemitismus bereits in den Ursprüngen einzudämmen. „Sonst tut sich nichts. Das Bewusstsein zu schärfen für Antisemitismus, das ist der erste Schritt.“ Auch Elias sieht Handlungsbedarf beim Staat: „Ich finde, dass zuallererst der Staat irgendwie zeigen muss, dass diese Dinge und Gefahren verurteilt werden. Lange wurden ja zum Beispiel Beleidigungen nicht juristisch verfolgt. Viele Menschen trauen sich dann halt einfach nicht mehr, zur Polizei zu gehen.“
Und was kann man als Einzelperson tun? Für die Historikerin Lipstadt ist es wichtig, Antisemitismus von Beginn an ernst zu nehmen. „Es beginnt immer mit Worten“, sagt sie, weshalb man Antisemiten im eigenen Umfeld zur Rechenschaft ziehen und auch selbst daran arbeiten müsse, Antisemitismus in der Gesellschaft zu bekämpfen.
Auch für Elias besteht bei jedem einzelnen Handlungsbedarf. Er betont, wie viel ihm die Unterstützung nach der Attacke bedeutet habe, war aber von den schweigenden Zeugen, die ihm in seiner Not nicht halfen, zutiefst schockiert. „Ich finde, es ist wichtig, dass die Gesellschaft reagiert. Es geht einfach darum, zum einen klarzumachen, dass der Angegriffene nicht allein ist und zum anderen, dass die Handlung des Täters verurteilt wird. Wenn man schweigt, zeigt man, dass es einem eigentlich egal ist.“
*Namen von der Redaktion geändert
Von Natascha Koch und Joel Pollatschek
Natascha Koch studiert Politikwissenschaften und Geschichte und schreibt seit 2019 für den ruprecht. In ihren Artikeln dreht es sich um aktuelle politische und gesellschaftliche Trends und alles, was die Welt bewegt – oder auch nur das Internet. Seit 2020 leitet sie das Ressort für die Seiten 1-3.