Mehr als zwei Fehlzeiten pro Semester können in einigen Fakultäten zum Nichtbestehen der gesamten Veranstaltung führen, unabhängig von der akademischen Leistung. Ist es an der Zeit, die Anwesenheitspflicht abzuschaffen?
Leonie Ott
ist Mitglied der Liste „emanzipatorische, undogmatische Linke.EULE“ und vertritt diese im Studierendenrat
Befürworter der Anwesenheitspflicht scheinen die Uni vor allem als Ausbildungsstätte für den Arbeitsmarkt zu sehen. Mit der Gewissheit, später einen Job zu haben, bei dem der Zwangscharakter von Arbeit recht offensichtlich ist, werden Regeln als notwendig wahrgenommen. Gleichzeitig braucht der Arbeitsmarkt aber auch eigenständig denkende und selbstdisziplinierte Personen. Mit dem Credo, sich durch den Job selbst zu verwirklichen und den Beruf zur Berufung zu machen, beuten sich vor allem diejenigen mit viel Eigenverantwortung selbst aus. Hier ist der Zwangscharakter der Arbeit weniger offensichtlich. Studierende, die solche Jobs anstreben, lehnen deshalb Regeln, die die Eigenständigkeit einschränken, eher ab. Schließlich gibt es noch die Idee einer unabhängigen Forschung, die Wissenschaft um der Wissenschaft willen betreibt. Die Universität sollte die Entwicklung von eigenständigen, kritischen Menschen fördern, wobei die politische Eingebundenheit von Wissenschaft reflektiert statt ausgeblendet werden muss.
These 1: Die allgemeine Anwesenheitspflicht benachteiligt Personen mit Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen
Das stimmt zwar, aber die Anwesenheitspflicht allein ist dabei nicht entscheidend. Bedeutender ist der Ausbau unterstützender Angebote. Vielfältige Lehre, die auf unterschiedliche Bedürfnisse eingeht, würde letztendlich allen Studierenden zu Gute kommen, auch solchen, die neben dem Studium arbeiten müssen oder Studierenden mit körperlicher Beeinträchtigung. In einigen Studienfächern kann man bereits Vorlesungen nachträglich online anhören, und es gibt die psychosoziale Beratungsstelle.
Außerdem glaube ich, dass zum Verständnis von psychischen Krankheiten neben biologischer Veranlagung auch die Art, wie Arbeit heutzutage organisiert ist, miteinbezogen werden muss. Hoher Arbeitsdruck sowie der Verlust von Selbstwirksamkeit begünstigen Depressionen, sind aber genau das, was die meisten Jobs und leider auch das Studium für viele auszeichnet.
These 2: Bestimmte Veranstaltungen leben von der Debatte und Mitwirkung der Studierenden – hierfür ist eine Anwesenheitspflicht unerlässlich
Die bloße physische Anwesenheit von mehr Studierenden führt nicht unbedingt zu einer besseren Diskussion. Menschen, die aufgrund einer psychischen Krankheit nicht kommen können, würden das auch nicht aufgrund einer Anwesenheitspflicht können, sondern scheiden wahrscheinlich eher einfach schneller aus.
Ein Umfeld, das weniger auf Zwang, sondern dem eigenen Interesse der Studierenden beruht, hat auch oder gerade ohne Anwesenheitspflicht anregende Debatten. Die Zeit berichtete erst diesen August, dass sich an der Universität Mannheim nach Abschaffung der Anwesenheitspflicht vor drei Semestern kaum etwas von dem Charakter der Seminare geändert hat. Stundenlange Diskussionen habe es weder davor noch danach gegeben.
These 3: Selbstbestimmtes Lernen und Eigenverantwortung sind Eigenschaften, die man Studierenden zutrauen sollte
Dem stimme ich zu, obgleich mit Verweis auf das im ersten Absatz Beschriebene zu fragen ist, um welche Art von Eigenverantwortung es sich hier handelt. Davon abgesehen bezweifle ich, dass bloßes Zutrauen allein reichen würde. Selbst wenn die Uni sich diese Begriffe ab morgen auf die Fahnen schreiben und alle Regeln abschaffen sollte, existieren weiterhin Normen und Anforderungen in der Gesellschaft, die nicht an den Universitätstüren halt machen.
Universitäten könnten aber vielleicht Orte sein, an denen eine alternative Norm geschaffen wird, die sich nicht an dem kapitalistischen Arbeitsverhältnis orientiert oder diesem zumindest entgegenwirkt. Das kritische Vorlesungsverzeichnis zum Beispiel ist zwar schlank, besitzt aber als studentische Initiative dennoch Potential.
Von Nele Bianga