Mehr als zwei Fehlzeiten pro Semester können in einigen Fakultäten zum Nichtbestehen der gesamten Veranstaltung führen, unabhängig von der akademischen Leistung. Ist es an der Zeit, die Anwesenheitspflicht abzuschaffen?
Manfred Berg
ist Professor für Amerikanische Geschichte am Historischen Seminar der Universität. Er vertritt nur seine eigene Meinung.
Das Ideal der Universität ist die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Die Debatte über die Anwesenheitspflicht erweckt jedoch den Eindruck, das Hochschulstudium in Deutschland zeichne sich vornehmlich dadurch aus, dass gelangweilte Lehrende in überfüllten Hörsälen unmotivierte Studierende mit irrelevanten Stoffmassen traktieren. Selbst wenn dies so wäre, die Abschaffung der Anwesenheitspflicht würde die Lage nur verschlimmern. Warum sollten sich Lehrende zur Lehre motiviert fühlen, wenn ihnen die Abschaffung der Anwesenheitspflicht signalisiert, dass ihr Engagement für den Lernerfolg gar nicht erforderlich ist? Die Verschulung wird zunehmen, weil Prüfungsstoff nur noch aus Pflichtlektüre bestehen kann. Lernerfolge und Leistungsniveau werden ohne qualifizierte Anleitung abnehmen. Und ohne Anwesenheitspflicht wird auch weniger Lehrpersonal benötigt. Die Finanzminister wird es freuen, das Studium und die Idee der Universität werden darunter leiden.
These 1: Die allgemeine Anwesenheitspflicht benachteiligt Personen mit Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen
Diese These ist aus zwei Gründen nicht stichhaltig.
Erstens handelt es nur um wenige Betroffene, für die sich bei Vorlage entsprechender Atteste Einzelfallregelungen treffen lassen. Ausnahmefälle begründen aber nicht die Abschaffung einer grundsätzlich sinnvollen Regelung.
Zweitens können gerade Studierende mit den genannten Problemen von einer Anwesenheitspflicht profitieren, weil diese sie motiviert, sich unter Menschen mit ähnlichen Interessen zu begeben. Wo sonst sollen diese Studierenden Fähigkeiten wie Präsentation und Diskutieren einüben, wenn nicht im relativ geschützten Umfeld der Universität? Ohne Anwesenheitspflicht besteht die Gefahr, dass sie sich weiter isolieren.
These 2: Bestimmte Veranstaltungen leben von der Debatte und Mitwirkung der Studierenden – hierfür ist eine Anwesenheitspflicht unerlässlich
Alle Lehrveranstaltungen leben von der Mitwirkung der Studierenden. Auch Vorlesungen können und sollten interaktiv sein, abgesehen davon, dass die Konzentration auf komplexe Sachverhalte ebenfalls eine Form der Teilnahme darstellt. Wissenschaftliche Inhalte und Methoden lernt niemand allein aus Lehrbüchern oder online, sondern nur unter Anleitung durch erfahrene Forscherinnen und Forscher und in Diskussionen mit Lehrenden und anderen Studierenden. Und wie sollen Lehrende Studierende angemessen beurteilen, die nur ab und zu erscheinen und dann nicht auf dem Stand der übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind? Dürfen Lehrende mündliche Leistungen bei der Notengebung berücksichtigen oder wäre dies eine Ungleichbehandlung derjenigen, die von ihrem „Recht“ auf Abwesenheit Gebrauch machen? Die engagierten Studierenden wird dies frustrieren.
These 3: Selbstbestimmtes Lernen und Eigenverantwortung sind Eigenschaften, die man Studierenden zutrauen sollte
Die Kritiker der Anwesenheitspflicht scheint vor allem das Wort Pflicht zu stören. Pflichten werden als unerträglicher Eingriff in die persönliche Freiheit empfunden. Aber wer sich für ein Studium entscheidet und einen akademischen Abschluss anstrebt, willigt damit ein, sich den sachlich begründeten, fachspezifischen Anforderungen des Studiums zu unterwerfen.
Im Übrigen eröffnet ein Hochschulstudium auch mit Anwesenheitspflicht ein weitaus höheres Maß an Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, als es die allermeisten Berufstätigen genießen. Doch niemand fordert, Auszubildende von der Anwesenheitspflicht in ihren Betrieben zu dispensieren. Da drängt sich schon der Verdacht auf, eine ohnehin privilegierte gesellschaftliche Gruppe beanspruche weitere Vorrechte.
Von Nele Bianga