Kurzsichtigkeit – diesen Begriff würden manche von uns aus der Ferne nicht mehr lesen können. Die Myopie, so der Fachbegriff für Kurzsichtigkeit, kann leicht durch eine Brille oder Kontaktlinsen korrigiert werden. Aber wie kommt es zur Kurzsichtigkeit? Die Ursachen liegen im Augapfel oder in der Augenlinse. Falls der Augapfel zu lang oder die Brechkraft der Hornhaut für die Länge des Auges zu intensiv ist, hat das zur Folge, dass die Netzhaut das Licht bündelt. Dadurch empfangen die Sehsinneszellen der Retina nur noch ein verschwommenes Signal – deshalb sieht man unscharf.
Kurzsichtige haben ein doppelt so hohes Risiko für Krankheiten wie Grauer oder Grüner Star als Menschen ohne Kurzsichtigkeit. Schon eine relativ geringe Sehschwäche von minus eins bis drei Dioptrien vervierfacht das Risiko für Löcher und Ablösungen der Netzhaut.
Die Kurzsichtigkeit ist eine der am weitesten verbreiteten Fehlsichtigkeiten. Laut dem Berufsverband der Augenärzte Deutschlands sind hierzulande etwa 63 Prozent aller erwachsenen Bürger in irgendeiner Form fehlsichtig.
Jeder vierte Deutsche ist kurzsichtig. Und es werden mehr: Laut der Brillenstudie des Instituts für Demoskopie Allensbach trugen 2008 etwa 26 Prozent der 20 bis 29-Jährigen wegen Kurzsichtigkeit eine Brille, 2018 waren es schon 35 Prozent. 1954 waren es nur elf Prozent.
Aber wieso werden manche Menschen kurzsichtig und andere nicht? Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass die Gründe sowohl in den Genen als auch in der Umwelt zu finden sind. Denn eine genetische Veranlagung zur Kurzsichtigkeit erklärt nicht deren starken Anstieg in den letzten Jahrzehnten.
Gründe sind laut der Mehrheit der wissenschaftlichen Studien vor allem fehlendes Tageslicht und intensive Naharbeit – zum Beispiel an Bildschirmen, aber auch auf Papier. Jost Jonas, Professor für Augenheilkunde an der Uniklinik Mannheim, sagt dagegen: „Es ist unklar, ob Naharbeit ein wesentlicher Faktor ist.“ Wahrscheinlich gebe es keinen Unterschied zwischen Handys und Büchern. Aber auch Jonas ist sich sicher, dass einer der Hauptfaktoren der Myopie der Mangel an Tageslicht ist.
Kinder, die wenig Zeit im Freien verbringen, leiden umso wahrscheinlicher an Kurzsichtigkeit. Es gibt auch einen gewissen Zusammenhang zwischen Kurzsichtigkeit und Intelligenz. Je intelligenter ein Mensch ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er viel liest, schreibt und lernt. Man weiß aber auch, dass die Korrelation zwischen starken Hirnen und schwachen Augen zu großen Teilen genetische Gründe hat: Es gibt Gene, die sowohl zu hoher Intelligenz als auch zu niedriger Sehleistung führen.
Kurzsichtigkeit tritt meistens nach der Einschulung auf, man spricht auch von Schulmyopie. Dass Erwachsene noch kurzsichtig werden, ist eher unwahrscheinlich, und eine bereits vorhandene Kurzsichtigkeit verschlimmert sich deutlich langsamer als noch im Kindesalter. Je früher eine Kurzsichtigkeit beim Kind einsetzt, desto stärker ist sie. Deshalb müssen Eltern bereits früh präventiv vorgehen: Gerade Schulkinder sollten möglichst viel Zeit draußen verbringen, damit sie bei Tageslicht spielen. Je mehr sie hingegen lesen oder auf Bildschirme gucken, desto wahrscheinlicher ist es, dass ihre Augen dauerhaft darunter leiden.
Mit den rasanten Fortschritten der Molekulargenetik in den letzten Jahren haben sich die genetischen Grundlagen der Kurzsichtigkeit ein Stück weit geklärt. Nach einer Suche im Erbgut von mehr als 45 000 Menschen hat das internationale Consortium for Refractive Error and Myopia (CREAM) gleich 24 Kurzsichtigkeitsgene entdeckt.
Das internationale Forscherteam hat das Erbgut von 37 382 Menschen europäischer und 8376 asiatischer Herkunft systematisch durchgemustert. Insgesamt 2,5 Millionen Genvarianten wurden auf ihre mögliche Verbindung zur Kurzsichtigkeit hin untersucht. In dieser Masse hat man dann die 24 Gene gefunden, die mit Kurzsichtigkeit zusammenhängen. Sind diese DNA-Bereiche verändert, hat man ein zehnfach höheres Risiko, kurzsichtig zu werden.
Wie der Augenspezialist Jonas sagt, erklären „alle bekannten Gene wahrscheinlich nur etwa 10 Prozent der Variabilität der Myopie“. Man weiß allerdings aus Zwillingsstudien, dass genetische Abweichungen die Hälfte der Unterschiede in Sachen Kurzsichtigkeit erklären. Die Augenheilkunde ist auch derjenige medizinische Bereich, in dem sie die größte Tragweite haben. Viele bedeutsame Genvarianten hat man also einfach noch nicht gefunden. (vim, hst)
Von Vivien Mirzai und Hannah Steckelberg
Vivien Mirzai studiert Politikwissenschaften und Germanistik im Kulturvergleich seit dem Wintersemester 2019/20. Seit Oktober 2019 schreibt sie für den ruprecht über Wissenschaft, Internationales und Rassismus. Sie wechselt zum Wintersemester 2020 in die Ressortleitung Feuilleton.
Hannah Steckelberg studiert Osteuropastudien und Germanistik im Kulturvergleich. Seit 2016 ist sie beim ruprecht – erst nur als Fotografin, seit 2017 auch als Autorin. Am liebsten schreibt sie Reportagen aller Art sowie ihre Kolumne “Hochschule bleibt stabil”. 2019/20 leitete sie zwei Semester lang das Ressort Seite 1-3, inzwischen lebt sie in Wien.