Als José Rizal im Februar 1886 in Heidelberg ankam, fragte er zunächst nach einer Bierstube, in der Studenten verkehrten. Er wollte sich nach einem guten Professor für Augenmedizin erkundigen. Man schickte ihn also in die „Gülden Bierbrauerei“, wo er auch tatsächlich auf ein paar Studenten traf. Er wunderte sich zwar über die gelben Mützen, wurde aber schnell in ihre Runde aufgenommen. „Da ich kaum Deutsch sprach und vor allem nicht gewöhnt war, es sprechen zu hören, war die Verständigung ziemlich schwierig, wir nahmen schließlich unsere Zuflucht zu Latein und unterhielten uns den halben Abend lang in dieser Sprache“, schrieb er später an einen Freund. So begann Rizals kurzes Studium in Heidelberg. Es sollte nur einige Frühlings- und Sommermonate dauern, aber entscheidenden Einfluss haben auf den Freiheitskampf einer 10 000 Kilometer entfernten pazifischen Inselgruppe: den Philippinen.
José Rizal gehörte zu einer Gruppe von Filipinos, die man in seiner Heimat bald als ilustrados – „die Erleuchteten“ – bezeichnen sollte. Er entstammte einer wohlhabenden philippinischen Familie, die es sich leisten konnte, ihren begabten Sohn für ein Medizinstudium nach Madrid zu schicken. Dass die Wahl ausgerechnet auf diese europäische Stadt fiel, lag daran, dass die Philippinen seit über 300 Jahren zum spanischen Kolonialreich gehörten. Anstatt sich jedoch brav in medizinische Fachbücher zu vertiefen, fand sich Rizal in Spanien bald in oppositionellen Kreisen wieder. Er diskutierte mit anderen Landsleuten über liberale und nationale Ideen und kam zu der Erkenntnis, dass das repressive Kolonialregime auf den Philippinen zum Einsturz gebracht werden müsse. Nach einiger Zeit gründeten die Gleichgesinnten eine oppositionelle Zeitung, die sie heimlich auf die Philippinen schmuggelten. Doch als Rizal sein Grundstudium abgeschlossen hatte und auch die spanische Repression drückender wurde, beschloss er, seine Promotion anderswo in Europa zu beginnen.
Es verschlug Rizal zunächst nach Paris, wo ihm die Mieten jedoch bald zu teuer wurden. So entschied er sich, nach Heidelberg zu gehen, wo er vom Ruf des berühmten Augenmediziners Otto Becker gehört hatte. Die Mieten waren hier zwar auch nicht viel niedriger, dafür gefiel ihm das Flair der kleinen Studentenstadt umso mehr. Deutsch lerne er in Windeseile, auch weil er regelmäßig in die „Gülden Bierbrauerei“ zurückkehrte. In seiner Wohnung an der heutigen Grabengasse am Universitätsplatz schrieb er aus Verehrung für die Stadt das Gedicht „A Las Flores de Heidelberg“.
Es kam ihm gelegen, dass er auf einem Spaziergang auf dem Philosophenweg den Pfarrer Karl Ulmer kennenlernte, der ihm anbot, als Gast in sein Pfarrhaus nach Wilhelmsfeld nördlich von Ziegelhausen zu ziehen. Die kostenlose Unterkunft machte den langen Weg nach Heidelberg allemal wett. Die Abgeschiedenheit half ihm auch bei der Verwirklichung seines nächsten politischen Projekts: dem Schreiben eines Romans. Er wollte die Öffentlichkeit Spaniens und des Auslands aufrütteln und gleichzeitig das Nationalgefühl der Filipinos erwecken. Ein belletristisches Werk schien ihm dafür besser geeignet als ein politisches Pamphlet. Nun fand er endlich die Zeit, sein in Spanien begonnenes Werk zu vollenden. Der auf Spanisch verfasste Roman „Noli me tangere“ prangerte das korrupte Kolonialsystem der Philippinen und seine enge Verquickung mit den katholischen Priestern und Mönchen an. Nachdem Rizal Heidelberg im Juli 1886 verlassen hatte, konnte er den Roman ein Jahr später in Berlin drucken lassen.
„Noli me tangere“ gilt heute als der große Nationalroman der Philippinen. Er beeinflusste indirekt den Ausbruch der philippinischen Revolution, die die spanische Kolonialherrschaft 1898 beendete. Die US-amerikanische Besatzung, die darauf folgte, dauerte bis 1946. José Rizal – der stets gegen Gewalt gewesen war – erlebte all dies nicht mehr, er wurde 1896 in Manila wegen Anstiftung zur Rebellion hingerichtet.
Von Cornelius Goop