Nach einem guten Essen ist man bereit jedem zu verzeihen, selbst den eigenen Verwandten“, sagte schon Oscar Wilde. Dass Essen Grenzen überwindet, ist der Grundgedanke des Vereins „Über den Tellerrand“. Mit internationalen Kochabenden möchte er für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund Begegnungsräume auf Augenhöhe schaffen. Entstanden ist die Idee 2013 in Berlin und ist seitdem auf ein Netzwerk von mehr als 35 Satellitenstädten in Deutschland und weltweit angewachsen – darunter auch Heidelberg.
Als der Verein 2015 in Heidelberg gegründet wurde, suchten circa 1500 Menschen in der Erstaufnahmeeinrichtung im Patrick-Henry-Village Zuflucht. Die gemeinsamen Kochabende sollten den „Neu-Heidelbergern“ die Ankunft erleichtern. Begonnen hat alles in privaten Küchen, in denen nur eine Handvoll Personen Platz fand. „Die Neuankömmlinge huschten anfangs recht schüchtern durch die Türen“, erinnert sich Kira, die von erster Stunde an dabei war. Jedoch fand das Angebot schnell großen Anklang, sodass man in das Gemeindehaus der Friedensgemeinde in Handschuhsheim umzog. Knapp ein Jahr später fand der Verein im Mehrgenerationenhaus in Rohrbach ein neues Zuhause.
„Aus anfänglicher Schüchternheit sind inzwischen enge Freundschaften geworden“, schwärmt Saskia, die Ehrenamtskoordinatorin des Vereins. „Es ist unglaublich schön, die Entwicklung zu verfolgen. Ehemalige Neuankömmlinge haben inzwischen Familien gegründet, in Heidelberg Wurzeln geschlagen und kehren dabei immer wieder zur ‚Tellerrand-Familie‘ zurück.“
Tatsächlich ist die familiäre Atmosphäre bei den Veranstaltungen sofort spürbar: Unterschiede in Alter, Schicht und Sprache verschwinden beim gemeinsamen Schnippeln für die indischen, gambischen oder afghanischen Abende. Egal, ob man zum ersten oder zehnten Mal, allein oder in einer Gruppe kommt, ob man Mitglied des Vereins ist oder nicht – man fühlt sich sofort willkommen und zugehörig.
Neben länderthematischen Kochabenden möchte „Über den Tellerrand“ auch ein Bewusstsein für aktuelle politische und soziale Probleme schaffen. Bei diesen Veranstaltungen ist der Verein nicht auf Kochabende beschränkt und arbeitet meist mit anderen Gruppen, wie „Chancen gestalten“ zusammen. Im Rahmen der Public Climate School Ende November thematisierte er gemeinsam mit Fridays for Future die Klimakatastrophe als Fluchtursache. „Die Möglichkeiten, eigene Ideen umzusetzen, sind fast unbegrenzt“, erklärt Kira.
Fluchterfahrung ist hier keine Kategorie, nach der Menschen eingeteilt werden: Es spielt keine Rolle, woher und weshalb die Teilnehmenden nach Heidelberg gekommen sind, da das Kochen selbst im Zentrum steht. Die typische Dynamik von Geben und Nehmen wird umgekehrt, denn es sind die Neuankömmlinge, die Ideen und Rezepte liefern und das Kochen anleiten. Sie geben den Alteingesessenen Einblicke in ihre Kochkulturen und lassen einen Teil, den sie hinter sich gelassen haben, wiederaufleben. Am Ende des Abends sind alle satt und überglücklich von den Abendessen. So werden aus Fremden Freunde.
Von Vera Peternek