30 Jahre Mauerfall. Was wird in der Aufarbeitung häufig übersehen und worauf macht die neueste Folge von „Die Anstalt“ aufmerksam?
Was meiner Meinung nach übersehen wurde, war die Aufarbeitung an sich… Wir haben deshalb in der Sendung mal ein paar der offenen Fragen gestellt: Warum wurde die Treuhand als zentrale Instanz der Privatisierung des DDR-Volksvermögens von Helmut Kohl nach dem Motto der strukturierten Verantwortungslosigkeit aufgebaut? Warum wurden die eigentlichen Entscheidungsgrundlagen im Leitungsauschuss der Treuhand von Unternehmensberatern wie McKinsey und Roland Berger erarbeitet – also von „Experten“, die politisch niemandem verantwortlich waren? Warum hat man bei der Arbeit der Treuhand bewusst die parlamentarische Steuerung und Kontrolle unterlaufen? Warum hat man mit einer überhasteten Währungsunion die damals sehr jungen Bundesländer schutzlos einer Art „Globalisierung im Schnelldurchlauf“ ausgesetzt? Und kann es sein, dass die unsichtbare Hand des Marktes am Ende doch eher eine Faust ist? Als alter Nebenfach-Historiker finde ich es übrigens begrüßenswert, dass jetzt die Treuhand-Akten aufgearbeitet werden… Allerdings ist es dabei schon bemerkenswert, dass der Forschungsauftrag dazu vom damals noch CDU-geführten Bundesfinanzministerium recht intransparent vergeben worden ist. Wollten da Akteure der CDU die Deutungshoheit über diese Zeit behalten?! Wie sagt man so schön? Hier bestünde Forschungsbedarf…
Kann man die Fehler, die durch und mit der Treuhand begangen wurden, wiedergutmachen?
Tja, wie will man Menschen, deren Biografien bei der rüden und vom „Westen“ dominierten Umstellung auf „die Marktwirtschaft“ entwertet wurden, diesen Teil ihres Lebens zurückgeben?! 98 Prozent der Menschen über 55 etwa wurden damals in den Vorruhestand geschickt – und das aus einer Gemeinschaft heraus, die sich als „Arbeitsgesellschaft“ definiert hat. Und die Berater und oft jungen Manager aus den alten Bundesländern haben oft gar nicht verstanden, dass die Betriebe in der DDR mehr waren als nur „Firmen“, sondern Polikliniken, Kindergärten et cetera – also gesellschaftliche Funktionen übernommen hatten. Das muss man jetzt nicht rosarot sehen, und man sollte auch nicht die SED oder die Stasi schönreden, aber man hätte diese Tatsache bei der Transformation zumindest berücksichtigen müssen. Wir sollten uns endlich von diesem Ja-es-war-vielleicht-hart-aber-es-ging-eben-nicht-besser-Larifari verabschieden und uns bei dem Thema „Wiedervereinigung“ ehrlich machen, anstatt alle Jahre wieder zur Parodie erstarrte Ritualfeiern zum Mauerfall zu begehen. David Hasselhof wird ja auch langsam alt.
Bei der Sendung „Die Anstalt“ gerät man sehr schnell in Rage darüber, was in Deutschland und der Welt so schiefläuft. Wie sehr setzt Ihnen die Aufregung darüber zu?
Mir setzt vor allem zu, dass wir immer wieder entdecken müssen, dass die öffentliche Debatte bei vielen Themen schlecht versorgt ist mit den entscheidenden Grundlagen. Immer wieder stoßen wir auf Fakten, die nur in Diskussion am Rande auftauchen und Spezialisten beschäftigen, es aber einfach nicht in die breite Debatte schaffen. Das macht uns echt zu schaffen. Kabarett war mal das Spiel mit dem Wissenszusammenhang des Zuschauers; jetzt müssen wir oft erst Argumente in die Debatte hieven, um anschließend mit ihnen spielen zu können. Das nimmt echt Platz für Pointen. Und ich mag Pointen! Jetzt wäre eine zum Beispiel ganz gut. Aber: kein Platz mehr!
Ist Satire das letzte Mittel in einer Zeit, in der man sich machtlos fühlt? Wie sehr sind wir der Politik ausgeliefert?
Es gibt weltweite Themen wie die Klimakrise, oder bundespolitische Themen wie die MAUT… da fühlt man sich tatsächlich machtlos. Also, wenn ich mir tagtäglich anschauen muss, wie ein Verkehrtminister (sic!) Andreas Scheuer bewusst versucht, das Parlament auszutricksen, dann kann die Politikverdrossenheit schon mal fröhlicher Urstände feiern. Auch wenn ich mich als Satiriker an dieser Stelle natürlich für die tollen Steilvorlagen bedanken muss. Aber man ist nicht völlig machtlos.
Gehen Sie mal in Ihrer Stadt in den für Sie zuständigen Bezirksauschuß. Oder in den Ortsverein einer Partei in Ihrer Nähe. Wenn Sie da als engagierter junger Mensch aufschlagen, so schnell können Sie sich gar nicht hinsetzen, da haben sie schon einen Posten. Und das ist vielleicht das offene Geheimnis: Demokratie ist das, was man draus macht. Klingt wie ein Kalenderspruch – ist auch einer. Den Kalender können sie bei mir im Online-Shop für 24,99 Euro erwerben… Scherz. Wir lernen gerade wieder Demokratie. Die gibt es nämlich nicht; solange man sie nicht selbst gestaltet und zwar indem man versucht, gemeinsam Dinge anzupacken; und nicht auf eigene Faust loszieht, um eigene Interessen durchzuboxen. Lassen Sie uns die Politik wieder lebendig machen. Denn Politik ist eben nicht, wie Frau Merkel vor sich hinmurmelt, „das, was möglich ist“. Politik ist das, was man möglich macht! Das ist übrigens der Spruch für Dezember…
Das Gespräch führten Xenia Miller und Svenja Schlicht
Svenja Schlicht machte im Sommer 2020 ihren Bachelor in Politikwissenschaft und Ethnologie an der Uni Heidelberg. Von Februar 2020 bis August 2020 leitete Sie das Feuilleton. Theater und Kultureinrichtungen waren aber bereits seit Oktober 2019 vor der ruprecht-Redakteurin nicht mehr sicher. Jetzt studiert sie an der Kölner Journalistenschule und freie Journalistin.
Xenia Miller studiert Politikwissenschaften und Soziologie und schreibt seit Sommersemester 2018 für den ruprecht. Sie schreibt von verkalktem Trinkwasser über Kabarettist*innen und Autor*innen bis hin zu Drachenbootfahren über alles, was sie so interessiert. Herzensthema bleibt natürlich die Politik. Im Wintersemester 19/20 leitete sie das Ressort Weltweit, seit Sommersemester 2020 das Ressort Heidelberg als Doppelspitze.