Nach der Präsidentschaftswahl in Bolivien kam es zu großen Unruhen in der Bevölkerung. Für den amtierenden Präsidenten deutete sich eine Niederlage an, bis er sich selbst zum Wahlsieger kürte. Beobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigten diese Unregelmäßigkeiten. Daraufhin protestierte die Bevölkerung landesweit, bis zu eine Million Menschen zog es auf die Straße.
Im Zuge meines Freiwilligendienstes befinde mich jetzt bereits seit drei Monaten in Bolivien. Dort habe ich meinen Gastbruder zum Wählen begleitet. Da es eine Wahlpflicht gibt, steht am Wahltag alles still: Kein Laden hat geöffnet und keine Autos dürfen fahren. Das restliche Verfahren vom Kreuzchen setzen, den Zettel in die Wahlurne werfen, bis hin zur Auszählung, ist identisch mit dem Verfahren in Deutschland. Am Wahlabend sah es nicht gut für Evo Morales aus, doch dann wurden die Auszählungen gestoppt. Tags darauf verkündete er seinen Sieg, und der Verdacht auf Ergebnisfälschung stand sofort im Raum.
Infolgedessen gab es mehrere Wochen hintereinander Straßenblockaden und Demonstrationen, die jedoch meistens friedlich verliefen. Die Straßenblockaden legten den Großteil des Landes lahm. Damit gab es auch keine Arbeit für mich und viele andere, weshalb wir auch an den Blockaden teilgenommen haben. Zunächst wunderte ich mich, dass die Proteste nicht abebbten, mir war das Ausmaß der Situation am Anfang nicht bewusst. Evo Morales hatte sich schon 2016 nach einem Referendum über die Meinung des Großteils seiner Bevölkerung hinweggesetzt. Daher dachte ich, dass dies jetzt wieder geschehen würde – doch da hatte ich mich getäuscht. Nachdem sich das Militär auf die Seite der Bevölkerung gestellt hatte, floh er ins Exil nach Mexiko. Dies geschah, weil der Druck aus der Bevölkerung zu stark wurde – es waren eine Million Menschen, die auf der Straße das Ende seiner Präsidentschaft forderten. Schließlich ging es um etwas viel Größeres, nämlich den Kampf des Volkes für die Demokratie.
Das merkte man auch daran, dass die Menschen bis fünf Uhr nachmittags die Straßenblockaden aufrechthielten und danach zu den Protesten gegangen sind. Die Stimmung war so ansteckend, dass man sich den Demonstranten eigentlich nur anschließen konnte. Leider kam es am Rande der Proteste öfter zu Ausschreitungen, bei denen die Polizei Tränengas einsetzte. Teilweise roch es sogar noch am nächsten Tag danach. Dennoch schreckte das die Menschen nicht ab, weiter zu protestieren. Nach drei Wochen Ungewissheit ist Evo Morales am 11. November zurückgetreten.
An diesem Tag war ich auf einem riesigen Marsch im Zentrum von La Paz. Die Stimmung nach Verkündung des Rücktritts war einzigartig. Die Leute lagen sich in den Armen, haben gejubelt und manche sind sogar in Freudentränen ausgebrochen. Jedoch schlug die Stimmung schlagartig um, als die Meldung die Runde machte, dass gewaltbereite Anhänger von Evo Morales von El Alto nach La Paz marschieren. Daraufhin bin ich mit meiner Gastfamilie schnell nach Hause gefahren. Die Südstadt gilt eigentlich als sicherster Teil von La Paz. Nachdem wir aber zu Hause waren, wollte ich meine wichtigsten Sachen ein wenig verstecken, da die Anhänger von Evo Häuser und Läden geplündert haben. Zu Hause hörten wir laute Schreie, und meine Gastfamilie meinte, dass ich mich mit meiner Gastschwester und meiner Gastmutter auf dem Dachboden verstecken solle. Wir hatten alle Messer und waffenähnliche Gegenstände gebunkert. In den folgenden ängstlichen und angespannten Minuten hörte man immer wieder klirrendes Glas. Wie mir mein Gastvater dann berichtete, wurde die Apotheke, die nur 20 Meter entfernt ist, vollkommen zerstört und ausgeraubt. So bestand die Gefahr, dass auch Häuser das Ziel werden könnten.
Die nächsten Tage waren aber eigentlich die schlimmsten. Es war ungewiss, ob ich das Land verlassen musste oder hierbleiben durfte. Zudem wurden auch die Lebensmittel knapp und es gab keinen Kraftstoff oder Gas. Die Menschen in El Alto hatten die einzigen Zufahrtsstraßen für Versorgungsmittel blockiert, damit wollten sie die Übergangsregierung zwingen, zurückzutreten. Da die Interimspräsidentin vor kurzem erst Neuwahlen angekündigt hatte, normalisierte sich die Situation seit einigen Tagen wieder etwas. Ob das das endgültige Ende der Unruhen ist, bleibt ungewiss.
Von Pascal Schumann