Liebe kann vieles sein. Verwirrend, erfüllend, verletzend, erwidert oder auch nicht. Der Heidelberger Lokalgruppe von „Mit Sicherheit Verliebt“, einem Arbeitskreis der Fachschaft Medizin, liegt vor allem eines am Herzen: Toleranz für Liebe und Sexualität in all ihren Formen und Farben zu schaffen.
Im Gespräch mit Fabian Landsberg, Jacob Pankoke und Max Herold, drei der Köpfe von „MSV“, wird schnell die Vielfalt der Themen klar, die sich unter diesem Deckmantel versammeln. So klärt die Gruppe neben sexueller Identität und Verhütung auch über weitgehend verschwiegene Angelegenheiten in unserem Schulsystem wie Geschlechtskrankheiten oder unrealistische Erwartungen an Sex und unsere Körper auf. Um solche Tabus von Anfang an wie selbstverständlich in den Diskurs zu integrieren, besuchen sie Schulklassen der Jahre sechs bis zehn. Meist im Rahmen von Projekttagen bietet ein Team aus vier MSVlern den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, in einem sicheren Umfeld mehr aus der vielschichtigen Welt der Sexualität zu erfahren und zu erfragen.
Die Jungs von MSV betonen, dass ihnen ein tolerantes Gesprächsklima und Anonymität besonders wichtig seien. Das Besprochene bleibe unter den Anwesenden, lügen sei erlaubt und wer sich unwohl fühle, dürfe gehen. Zum Thema Aufklärung im Zeitalter von Katja Krasavice auf Youtube und dem grenzenlosen Zugang zu Pornographie berichten sie von einem großen Kontrast zwischen täglichem Kontakt zu sexuell explizitem Material und tatsächlicher Aufklärung. „Ich glaube, das Internet und soziale Medien haben sehr viel Potenzial, sind aber auch sehr gefährlich“, sagt Fabian und erklärt: „Gerade die Mainstream-Pornographie gibt nicht die Quintessenz des eigentlichen Geschlechtsverkehrs wieder. Wenn einem Elfjährigen dort suggeriert wird, das unverhüteter Sex mit Fremden ganz normal sei, verzerrt das natürlich die Realität und schafft falsche Erwartungen.“ Das Thema Sexualität sei von klein auf allgegenwärtig. Dadurch würde ein enormer Druck auf den Jugendlichen lasten, wenn es darum gehe, ihre eigene Sexualität auszuüben. „‚Ehe ich mich vielleicht bloßstelle beim ersten Mal Sex und der Druck da ist, zu versagen, befriedige ich mich lieber durch leicht zugängliche Pornografie‘, denken sich vor allem viele Jungs.“
Dies spiegelt sich auch in Statistiken wider. Die Zahl der Jugendlichen, die ihr erstes Mal im Alter von 15 oder noch früher erleben, ist laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung rückläufig. Und auch in Beziehungen haben junge Erwachsene heute weniger Sex als noch die Generation ihrer Eltern. Ein Partner wünscht sich Zuneigung und Zärtlichkeit, bei der Selbstbefriedigung ist dies nicht vonnöten. Dating-Apps wie Tinder oder Grindr machen potentielle Partner vermeintlich leicht zugänglich, verlagern Flirt und Partnerschaft aber vor allem in die digitale Welt.
Doch auch der Spaß kommt bei den Schulbesuchen von MSV nicht zu kurz. So sammeln die Schülerinnen und Schüler in geschlechtsgetrennten Runden je fünf Fragen an die andere Gruppe und können anonym Fragen an die Studierenden in eine Box werfen. „Das ist natürlich ein Schatz, in dem immer superlustige Nachfragen zu finden sind, aber auch viel Ernstes, was einen nachdenklich macht“, erzählt Jacob. Die Anekdoten, von denen die Jungs berichten, reichen von der Frage nach dem Ursprung des Spermas – kommt es aus dem Fuß, dem Rückenmark oder etwa doch aus dem Blut? – bis hin zu Angstvorstellungen, dass HIV durch Mücken übertragbar sei. Ab und zu kommt dann auch das Expertenteam von MSV an seine Grenzen, sodass das Handy für eine kurze Recherche gezückt werden muss.
Doch nicht immer ist die Stimmung in den Klassenzimmern so tolerant, wie es sich die Studierenden wünschen. Oft finde man, vor allem unter jungen Männern, immer noch ein hohes Maß an Homophobie, aber nicht unbedingt dort, wo man es erwarten würde. So betreibt der Arbeitskreis seit drei Jahren das Programm „MSV interkulturell“, bei dem sie unter anderem Klassen mit Geflüchteten besuchen. Vorurteile, die dort verstärkt Sexismus und homophobe Einstellung erwarten, würden sich häufig als falsch erweisen. Das Niveau an Aufklärung bewege sich dort zwar eher auf dem einer Grundschulklasse, die Inhalte zum Thema Toleranz und Sexualität würden aber verstanden und akzeptiert werden. „An vielen Gymnasien geht es teilweise homophober zu“, sind sich die drei einig. Dabei ist es den MSVlern wichtig, den Vertriebenen aus anderen Kulturen kein neues Weltbild aufzudrängen, aber trotzdem zu erklären, dass jede Sexualität innerhalb ethischer und rechtlicher Richtlinien etwas Positives ist. „Man muss es tolerieren, aber nicht unbedingt mögen“, so Fabian.
Für die Zukunft haben sie noch viel vor, denn: „Wir als Studierende leben in einer liberalen Blase, aber selbst mitten in der Stadt Heidelberg ist beispielsweise Homophobie immer noch in allen Schichten tief verankert. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir etwas dagegen unternehmen.“
Die Leidenschaft für mehr sexpositive Aufklärung in der Gesellschaft ist deutlich zu spüren. Dies ist den Mitgliedern des Arbeitskreises ebenfalls ein persönliches Anliegen. „Wir sind eine Gemeinschaft aus Leuten, die sehr queer sind, von der Norm abweichen. Oft sind wir auch ein bisschen komisch“, beschreibt Fabian die bunte Gruppe. „Und vor allem sehr akzeptierend“, fügt Max hinzu. Bei ihnen finde jeder seinen Platz, Studierende aller Studiengänge sind willkommen.
Die drei Jungs sprechen zum Schluss über ihr letztendliches Ziel: „eine ganzheitliche Aufklärung zu schaffen, damit jeder glücklich mit seiner persönlichen Identität leben kann.“ Keine unrealistische Hoffnung angesichts des Engagements.
von Lukas Schwaab
Nicolaus Niebylski studiert Biowissenschaften. Beim ruprecht ist er seit dem Sommersemester 2017 tätig – meist als Fotograf. Er bevorzugt Reportagefotografie und schreibt über Entwicklungen in Gesellschaft, Kunst und Technik. Seit November 2022 leitet er das Ressort Heidelberg. Zuvor war er, beginnend 2019, für die Ressorts Studentisches Leben, PR & Social Media und die Letzte zuständig, die Satireseite des ruprecht.