Sie haben nach Ihren Vorfahren geforscht, würden Sie das anderen Personen auch empfehlen oder kam da zu viel Dunkelheit und Trauer ans Licht?
Man weiß natürlich vorher nicht, was zum Vorschein kommt. Es hat schon den einen oder anderen Moment gegeben, wo ich mich gefragt hab: „Will ich das alles wirklich wissen?“. Aber letztendlich war es für mich doch sehr gut, dass ich erfahren habe, woraus ich komme und worauf ich stehe. Also ich würde es jederzeit wieder machen.
Und Sie haben sich dann auch mit Identität, mit russisch-deutscher Identität beschäftigt. Können Sie eine Definition der russisch-deutschen Identität aufstellen?
Mit Identität beschäftige ich mich eigentlich gar nicht mehr viel, also was soll das überhaupt sein, diese Identität? Ich bin schon mehr zu Hause im Deutschen als im Russischen. Ich bin hier geboren, hab mein ganzes Leben hier gelebt, bin zwar oft in Russland gewesen, aber das waren letztendlich immer nur Besuche. Und das Russische und das Deutsche sind schon ziemlich unterschiedlich: zwei Pole in mir selbst irgendwie. Früher waren das furchtbare Konflikte für mich, weil das Deutsche manchmal direkt seitenverkehrt zum Russischen ist. Und ich stand oft dazwischen, hatte oft auch große Probleme beim Schreiben, ich schrieb immer deutsch, aber wenn ich mal angefangen habe, das was ich schreibe ins Russische zu übersetzen, dann stimmte es nicht mehr. Wenn wir jetzt bei dem Wort Identität bleiben, dann bin ich schon sehr viel mehr im Deutschen identifiziert, als im Russischen.
Also da gibt es auch keinen Punkt, wo man beides vereinen könnte, sondern es ist immer noch voneinander getrennt?
Vereinen, wirklich vereinen kann man das nicht, nein. Muss man aber auch nicht. Das sind einfach verschiedene Mentalitäten.
Braucht man eine Art Heimat als Mensch, oder eine Art Zugehörigkeit? Ist das überhaupt nötig?
Die grundlegende Frage für alle Menschen. Ich glaube, dass wir alle einen Ort brauchen, an dem wir alle zu Hause sind, an dem wir alle geborgen sind, wo wir angenommen sind, das ist das Wichtigste für uns. Nur leider haben das ganz viele Menschen auf dieser Welt gerade jetzt wieder nicht, das finde ich sehr furchtbar, sehr traurig. Und daran sollte man bei den Flüchtlingen denken, die nach meiner Meinung zu Recht kommen. Denn diese Menschen haben auch alle nur dieses eine Leben, und sie wollen nicht dieses eine Leben nur in Armut, oder nur im Krieg, oder anderen furchtbaren Zuständen verbringen.
Sie hatten in Ihrer Kindheit ja auch keine richtige Heimat oder einen Bezugspunkt. Den haben Sie sich nun gestiftet, so habe ich Sie verstanden. Wie haben Sie das geschafft, in Deutschland Fuß zu fassen?
Also ich habe in Deutschland Fuß gefasst, aber ich würde nicht sagen „Deutschland ist meine Heimat“. Ich habe keine Heimat, ich habe sehr gute Freunde, Menschen, die mir nahe sind, und das bedeutet mir sehr viel. Und es bedeutet natürlich auch sehr viel, dass ich in Deutschland Fuß fassen konnte, dass ich mich hier auskenne, dass ich weiß, an wen ich mich wenden muss, wenn ich was brauche, und dass ich nicht mehr ausgegrenzt bin, das bedeutet enorm viel. Aber Heimat ist glaube ich nochmal was anderes, das kenne ich nicht.
Würden Sie es gerne kennen? Vermissen Sie da was?
Nein, inzwischen nicht mehr. Also was man nicht kennt, kann man gar nicht so recht vermissen. Ich bin schon ganz einverstanden damit, dass ich keine wirkliche nationale Zugehörigkeit habe. Ich muss die auch nicht haben.
Denken Sie, wenn Sie sich zurückerinnern an Ihre Kindheit, wie die deutsche Gesellschaft Sie empfangen hat, dass sich da was verändert im Gegensatz zu heute? Ist es besser oder schlechter geworden?
Ich kann es nur beurteilen, was die Russen angeht. Da hat sich das Verhältnis natürlich verändert, denn nach dem Krieg waren die Russen natürlich der Weltfeind schlechthin, die waren Schuld daran, dass die Deutschen, die Nazis den Krieg verloren haben. Sie waren unglaublich stark durch die Propaganda beeinflusst, also die Kommunistenhetze. Es war damals für uns Russen in einer deutschen Kleinstadt fast lebensgefährlich, zu leben. Ich meine heute hört man ja auch immer wieder davon, dass es zum Beispiel für Schwarze oder für Araber auch lebensgefährlich sein kann, hier zu leben. Also insofern: wirklich was verändert, für uns Russen ja, ganz sicher, wir stehen jetzt nicht mehr an der untersten Stelle an der schwarzen Liste, aber dafür gibt es jetzt wieder andere.
Haben Sie konkrete Beispiele, an denen Sie festmachen, dass Sie besser behandelt und empfangen werden in Deutschland?
Naja also, wir sitzen jetzt hier in einem ziemlich schicken Hotel, und Sie machen ein Interview mit mir. Das hätte es vor 50 Jahren sicher nicht gegeben. (lacht)
Was vermissen Sie von der Aufarbeitung her?
Es wird sehr viel über den Holocaust gesprochen und das ist auch richtig, natürlich. Aber es wird zu wenig über die Zwangsarbeit gesprochen, die auch immense Ausmaße hatte und von Millionen von Menschen das Leben zerstört hat. Also es wurden viele umgebracht, viele sind umgekommen bei der Zwangsarbeit. Aber was die Sowjetbürger angeht, die haben ja nie wieder ein Leben finden können, da sie in ihrer Heimat von diesem wahnsinnigen Stalin dafür bestraft wurden, dass sie für den Kriegsfeind gearbeitet haben. Und von all diesen Dingen weiß man hier, finde ich, leider immer noch zu wenig. Und ich finde es sehr gut, solche Dinge zu wissen, weil das was man nicht weiß, arbeitet da im Untergrund immer etwas weiter, und das kann sich sehr negativ äußern. Also es ist wirklich gut, wirklich alle Untaten, alle Schreckenstaten zu beleuchten, wirklich anzuschauen, und ins Bewusstsein zu holen, damit sie nicht im Unbewussten weiterarbeiten.
Aber Sie schreiben auch für sich? Oder wie ist da das Verhältnis? Also zum Schreiben, damit andere es erfahren.
Das ist nicht meine hauptsächliche Motivation. Die hauptsächliche ist, dass ich den Dingen eine Form geben möchte. Ich fürchte mich vor allem, was keine Form hat, also vor allem was so eine Ungestalt bleibt, und wo ich nicht genau sagen kann, was es eigentlich ist. Also ich möchte von möglichst Vielem wissen: „Was ist es“, und das kann ich am besten, wenn ich die richtigen Worte dafür finde.
Ich möchte nochmal auf die Zwangsarbeit zu sprechen kommen. Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass es hier ziemlich unbekannt ist, welche Dimensionen das hatte. Welche kennt man nicht?
Man weiß vor allem nicht von der Zahl. Auch meine Freunde, die eigentlich durchweg politisch gut gebildete, bewusste Menschen sind. Wenn ich frage: „Was denkst du, wie viele Lager gab es in Deutschland?“, dann sagen die einen „naja 20 vielleicht“, die anderen sagen „vielleicht 200“. In Wirklichkeit waren es 42.500. Also niemand kann sagen, von der Zwangsarbeit habe man nichts gewusst. Es war vielleicht so, dass sie alltäglich war, so selbstverständlich. Vielleicht kommt daher dieser Ausspruch „Das haben wir nicht gewusst“. Und man weiß nicht, dass den Menschen wirklich das gesamte Leben zerstört war, zumindest der Sowjetbürger, das waren die allermeisten Zwangsarbeiter. Unter den Sowjetbürgern waren die meisten Ukrainer, aber es gab Zwangsarbeiter aus Belgien, aus Frankreich, aus Italien und sonst woher. Aber die waren alle etwas bessergestellt, die Slaven waren „die minderwertigste Rasse“, die kamen gleich nach den Juden. Und was auch nicht sehr gut bekannt ist, ist was mit den Kindern der Zwangsarbeiter geschehen ist. Also man hat sehr viele Kinder mit Giftspritzen getötet, das war ja „minderwertiger Nachwuchs“, den konnte man nicht gebrauchen. Das war die ursprüngliche Idee war ja bei Hitler im Krieg das slavische Volk auszurotten und nur ein Drittel sollten als Sklaven der deutschen Kultur dienen. Aber die meisten hat man einfach sterben lassen, die wurden der Mutter weggenommen, die hat man verhungern lassen, da haben katastrophale Zustände geherrscht, wie das hieß „Bastardaufzuchtsräume“, das waren kleine Sterbelager für Kinder. Also es müssen wirklich ganz rohe, barbarische, unmenschliche Zustände gewesen sein. Und davon weiß man noch nicht genug.
Sie haben ja auch recherchiert, wie das ganze System funktioniert hat. Wie hat es denn angefangen, wie sind diese Menschen überhaupt nach Deutschland gekommen?
Die deutschen Männer waren ja alle im Krieg, aber zu Hause musste die Kriegsproduktion weitergehen. Und deswegen brauchte man Arbeitskräfte, und dann hat man in den besetzten Ländern zuerst Propaganda gemacht für die Arbeit in Deutschland. Es gab Leute, die dann freiwillig gegangen sind, denn in den besetzten Ländern herrschte Krieg und sie haben sich dann Hoffnungen gemacht, dass es vielleicht in Deutschland besser wird. Man hat ihnen natürlich nicht die Wahrheit gesagt und in Wirklichkeit waren es dort KZ-ähnliche Zustände, jedenfalls für die Slaven. Nachdem sich aber doch langsam herumgesprochen hatte, wie es dort wirklich aussieht, haben sich keine Freiwilligen mehr gemeldet und dann hat man Menschen wirklich in rauen Massen einfach auf der Straße eingefangen. Die Angehörigen haben einfach nicht gewusst, wo der ist, und der war für immer verschwunden. Und das millionenfach.
Stehen Sie in engem Kontakt zu anderen Kindern von ehemaligen Zwangsarbeitern?
Zu einigen schon. Das sind fast alle schwer beschädigte Leben. Da wo ich gelebt habe, in diesem Displaced Persons Lager, da leben heute noch zwei, drei Leute aus der damaligen Zeit. Die meisten sind da hängen geblieben, die haben diesen Anschluss nie bekommen. Und die Kinder, die waren natürlich auch schon alle gezeichnet durch diese Umstände. Da gibt es wirklich erschütternde Schicksale in erschütternder Ähnlichkeit. Mädchen, Zwangsarbeitertöchter wurden zum Beispiel vergewaltigt. Das was nicht an die Oberfläche kommt, das hat viel im Untergrund weitergearbeitet und verwandelt sich in negative Energien.
Wie frustriert sind Sie manchmal auch darüber, dass zu wenig über diese Thematik gesprochen wird?
Ich bin im Moment nicht so sehr frustriert, weil ich mich sehr darüber freue, dass mein Buch so viel Öffentlichkeit und so viel Interesse bekommt. Und zu meinen Lesungen sehr viele Leute, die sehr aufgeschlossen, sehr interessiert sind, kommen. In der Presse und in den Medien, da kommt das Thema weiterhin eigentlich nicht vor. Aber es ist schon geforscht worden. Die Tatsachen sind bekannt, sie sind der breiten Bevölkerung nicht bekannt, und dafür tun die Medien eigentlich gar nichts.
Zu Ihrer Lesung später. Geht es Ihnen sehr nahe, ist das Lesen etwas sehr Persönliches, Emotionales?
Nein, eigentlich nicht. So ein Text, an dem sitzt man lange, und man braucht sowieso einen großen Abstand zum Text, um ihn zu schreiben zu können. Also wenn ich mitten in den Gefühlen bin, kann ich in mein Tagebuch schreiben, aber ich kann nicht einen literarischen Text schreiben. Also muss ich eine Form finden. Und diese Formfindung heißt auch Abstand finden, denn aus der Nähe würde ich es nicht sehen. Ich muss es durch den Abstand angucken können und dann geht so ein Buch durch die ganze Veröffentlichungsphase und so weiter, also ein Buch löst sich von einem ab. Ich fühle mich auch deshalb ganz gut auf den Lesungen, weil auch dieses Interesse da ist und ziemlich große Empathie der Menschen – das verwundert mich und freut mich sehr.
Wir sprechen zwar gerade etwas losgelöst von Ihren Büchern, aber wenn Sie immer wieder darüber sprechen, belastet Sie das oder nimmt es Sie mit?
Bei Interviews auch nicht, das ist wie bei den Lesungen. Aber natürlich werde ich dieses Schicksal nie mehr los. Also daher komme ich, das ist mein Anfang, das ist eigentlich meine Heimat, das DP-Lager, da komme ich her – und das sage ich jetzt nicht einfach so – aber das ist wirklich in meinem Empfinden stark, dass ich aus dieser Sphäre komme, aus diesem Kochtopf irgendwie. Und ich fühle mich immer solidarisch mit Menschen, die heimatlos sind. Es hat mich lange Zeit sehr, sehr belastet, wobei gar nicht so bewusst, sondern eher unbewusst. Die Brutalität, die man erlebt, besonders als Kind, die maskiert sich ja später, also kommt mit ganz anderen Gesichtern daher. Und ich habe eigentlich mein ganzes Leben eigentlich gar nicht leben können, und wusste auch gar nicht wieso. Da war sehr viel Angst im Spiel, sehr viel Lebensangst und Außenweltangst, das habe ich überwunden. Aber ich bin natürlich für immer geprägt davon, das ist ganz klar.
Sie haben ja den Hilde-Domin-Preis erhalten. Was hat das für Sie persönlich bedeutet und was denken Sie, welche Wirkung das auf andere Personen hatte, die vielleicht Displaced Persons sind?
Das muss ich auf jeden Fall sagen: Ich habe den Preis so angesehen, dass er ein Preis für die Displaced Persons war. Ich habe mich natürlich auch über das Geld gefreut, aber mich auch gefreut, dass das Thema nochmal eine neue Aufmerksamkeit bekommen hat. Und dann war es natürlich auch eine Ehre für mich, diesen Preis zu bekommen.
Das Interview führte Xenia Miller
Xenia Miller studiert Politikwissenschaften und Soziologie und schreibt seit Sommersemester 2018 für den ruprecht. Sie schreibt von verkalktem Trinkwasser über Kabarettist*innen und Autor*innen bis hin zu Drachenbootfahren über alles, was sie so interessiert. Herzensthema bleibt natürlich die Politik. Im Wintersemester 19/20 leitete sie das Ressort Weltweit, seit Sommersemester 2020 das Ressort Heidelberg als Doppelspitze.