Der Blick in den Himmel hat die Menschheit schon immer mit einer tiefen Sehnsucht erfüllt. Ab und an einfach davonfliegen, warum bleibt uns das vorenthalten? Säugetiere können nicht fliegen, mit einer Ausnahme: die Fledermaus.
Als einzige hat sie es geschafft, sich die Lüfte zu erheben. In der Wissenschaft und in der Literatur hat sie deswegen lange Verwirrung gestiftet. Bereits Äsop beschreibt in einer Fabel sein Unverständnis: Ein Wiesel, das Vögel hasst, trifft auf eine Fledermaus und greift sie an. Diese wendet jedoch ein, dass sie kein Vogel, sondern eine Maus sei. Einige Zeit später trifft sie auf ein Wiesel, das Mäuse hasst und sie angreifen will. Auch hier weiß sich die Fledermaus herauszuwinden und fliegt einfach davon.
Vogel oder Maus – eine Frage, die der Zoologe Edward Wotton im 16. Jahrhundert als Erster richtig beantworten konnte. Damit wurde ein wenig Licht in das Mysterium Fledermaus gebracht. In den letzten Jahren haben Fledermäuse Wissenschaftlern auf der ganzen Welt jedoch erneut Kopfzerbrechen verursacht.
SARS, MERS, Covid-19: Viele der neuartigen Infektionskrankheiten finden ihren Ursprung in der Tierwelt. Überdurchschnittlich viele davon in Fledertieren, zu denen Fledermäuse und Flughunde gehören. Das gibt Anlass zu einer gewagten Hypothese: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Viren der Fledermäuse und ihrer Flugfähigkeit?
Fliegen – ein kostspieliges Unterfangen
Als Dädalus und Ikarus ihre Natur überwinden wollten, mussten sie dafür einen hohen Preis zahlen. Doch was wäre gewesen, wenn ihnen die Evolution zu Hilfe gekommen wäre? Wenn wir Flügel hätten, wie stünde es dann um den Rest unserer Körper?
Zunächst einmal würde sich unser Energiebedarf enorm steigern. Bei Fledermäusen ist er drei- bis fünfmal höher als bei anderen Säugetieren ihrer Größe. Den täglichen Energiebedarf von 2000 Kilokalorien auf 10000 zu steigern, ist bei unserem heutigen Ernährungsverhalten sogar möglich. Wenn man sich allerdings hauptsächlich von Insekten ernährt, steht man vor einem Problem.
Fledermäuse haben deswegen ihre Energiegewinnung optimiert. Genau wie beim Menschen läuft sie über eine Reihe von Prozessen, unter die auch die Atmungskette fällt. Diese evolutionsbiologische Entwicklung stellt die Fledermaus vor ein erneutes Problem: In der Atmungskette fallen Nebenprodukte an. Zu ihnen zählen hochreaktive Atome und Molekülbruchstücke, die man freie Radikale nennt.
Freie Radikale sind ein Thema, das in den Medien gern aufgegriffen wird. Sie werden primär als schädlich angesehen und stehen in Zusammenhang mit dem Alterungsprozess – aber auch mit Erkrankungen wie Parkinson und Krebs. Wie überall in der Natur macht aber auch hier die Dosis das Gift. Geringe Mengen an freien Radikalen unterstützen den Körper beispielsweise bei der Abwehr von eingedrungenen Erregern. Gefährlich wird es nur, wenn zu viele freie Radikale ausgeschüttet werden. Ihre Reaktionsfreudigkeit verschiebt das natürliche Gleichgewicht zwischen oxidativen und antioxidativen Prozessen in Richtung oxidativ. Dadurch entsteht ein sogenannter oxidativer Stress.
Erst dann führen freie Radikale zur Schädigung der körpereigenen Zellstrukturen, wie zum Beispiel Lipiden, Proteinen und der DNA. Diese verlieren dadurch ihre Funktion, und der Körper wird anfälliger für Parkinson und Krebs.
Wenn Fledermäuse also ihre Atmungskette optimieren, um mehr Energie zu gewinnen, sind sie gleichzeitig sehr vielen freien Radikalen ausgesetzt. Wie gehen sie mit diesem dauerhaften oxidativen Stress um, ohne reihenweise Krebs zu entwickeln?
Selbstoptimierung auf allen Ebenen
Ein Blick in die Abteilung für Nahrungsergänzungsmittel bietet scheinbar eine Lösung für das Problem. Antioxidantien sollen die freien Radikale „einfangen“ und dadurch oxidativen Stress verhindern. Auch wenn die Notwendigkeit solcher Präparate beim Menschen fraglich ist, hat die Fledermaus nicht unbedingt die Möglichkeit, einfach mehr Obst und Gemüse zu sich zu nehmen oder mit Nahrungsergänzungsmitteln nachzuhelfen. Stattdessen hat sie erneut das Beste aus sich herausgeholt.
Fledermäuse haben wie Menschen körpereigene Mechanismen, um den Folgen des oxidativen Stresses zu entgehen. Falls DNA geschädigt ist, kann sie erkannt und entfernt werden. Der Biochemiker Zhijian Chen von der University of Texas hat mit seinem Forschungsteam in den letzten Jahren den DNA-Sensor cGAS entdeckt. Er ist in der Lage, DNA zu erkennen, die wegen ihrer Schädigung nicht mehr an ihrem ursprünglichen Ort, dem Zellkern, sondern im umliegenden Zytoplasma vorkommt. Daraufhin wird der „cGAS-STING-Signalweg“ eingeleitet. Dieser Signalweg führt in Zellen dazu, dass entzündungsfördernde Stoffe ausgeschüttet werden.
Wie die freien Radikale sind auch Entzündungen nicht automatisch schlecht. Sie signalisieren dem Körper eine Schieflage. Die freigesetzten Stoffe entfernen potentiell schädliches Material wie die geschädigte DNA – oder auch ein eingedrungenes Virus.
Allerding macht auch hier die Dosis das Gift. Dauerhafter oxidativer Stress bedeutet eine dauerhafte Ausschüttung entzündungsfördernder Stoffe. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wird aus einer lokalen Entzündung eine systemische. Was den Körper eigentlich schützen soll, wird ihm zum Verhängnis. Gesundes Gewebe im gesamten Körper wird angriffen, und Krankheiten entstehen.
Wenn Fledermäuse also keine Möglichkeiten haben, die durch das Fliegen zusätzlich entstandenen freien Radikale „einzufangen“, müssen sie einen anderen Weg finden, Entzündungen zu verhindern. Die Prozesse sind komplex und noch nicht endgültig geklärt. Jedoch weiß man beispielsweise bereits, dass sie in der Lage sind, Signalwege wie den cGAS-STING-Signalweg zu unterdrücken. So werden weniger entzündungsfördernde Stoffe ausgeschüttet, obwohl sich potentiell schädliches Material angesammelt hat. Aber ist das nicht gefährlich?
Eine Kinderstube für Viren
Bisher ging es bei dem potentiell schädlichen Material nur um die eigene DNA. Was ist mit Eindringlingen wie Viren, die auch DNA oder RNA besitzen?
Wenn Viren in den Körper gelangen, haben sie erstmal nur ein Ziel vor Augen: Vervielfältigung. Sie dringen in Zellen ein und setzen dort ihr eigenes genetisches Material frei, um sich in den Zellen zu vermehren. Die Zelle wehrt sich dagegen nach Kräften. DNA-Sensoren wie cGAS erkennen die fremde DNA, entzündungsfördernden Stoffe werden ausgeschüttet und die virale DNA eliminiert.
Das ist jedoch ein Spiel mit dem Feuer. Liegt sehr viel virale DNA in den Zellen vor, kann die Entzündungsreaktion so stark werden, dass sie den ganzen Körper betrifft. Der Körper beginnt sich selbst zu schädigen, Organe werden in Mitleidenschaft gezogen und im schlimmsten Fall versagen sie. Deswegen ist bei Virusinfektionen häufig nicht das Virus an sich gefährlich, sondern die Antwort des Immunsystems. Da Fledermäuse Entzündungsreaktionen generell unterdrücken, sind sie davor geschützt.
Erst einmal klingt das gut: Die Flugfähigkeit wappnet die Fledermäuse vor den Folgen einer Virusinfektion. Gleichzeitig fallen jedoch die positiven Effekte einer Entzündung weg. Theoretisch können sich Viren nun ungestört vermehren, ohne vom Immunsystem gestört zu werden.
In Wirklichkeit ist das nur bedingt der Fall. Einer der Stoffe, der bei einer Virusinfektion ausgeschüttet wird, ist IFN-α. Er verhindert, dass Viren sich vervielfältigen. Anders als Menschen schütten Fledermäuse ihn permanent aus und sind so jederzeit gegen eindringende Viren gewappnet. Viren haben deswegen eine sehr kurze Überlebenszeit in Fledermäusen. Um trotzdem zu überleben, haben sie einen anderen Weg gefunden, ihr Immunsystem auszutricksen.
Bei der Fledermaus zu Gast sein, heißt sich still zu verhalten
Die Viren ziehen sich in Bereiche des Körpers zurück, in denen sie quasi schlummern und darauf warten, dass die Fledermaus geschwächt ist. Das macht Fledermäuse zu einem natürlichen Reservoir unzähliger Viren. Ist sie geschwächt, weil sie unter Stress steht oder etwa aus dem Winterschlaf erwacht, kommt das Virus wieder hervor und greift an. Prozesse wie die permanente Produktion von IFN-α sind heruntergefahren, und das Virus kann sich innerhalb kürzester Zeit rasant vermehren. In dieser Phase ist es auch in der Lage, auf andere Tiere überzuspringen. Sobald das Immunsystem der Fledermaus wieder hochgefahren ist, zieht das Virus sich erneut zurück oder wird vollkommen eliminiert.
Die Natur als Vorbild
Das Immunsystem der Fledermäuse ist eine einzigartige evolutionsbiologische Leistung, aus der wir ungemein lernen können. Die Wissenschaft ist dabei, immer besser zu verstehen, wie die Fledermaus, mit oxidativem Stress und chronischen Entzündungen umgeht. Sie versucht die Erkenntnisse in der Bekämpfung von Volkskrankheiten, die genau darauf zurückzuführen sind, anzuwenden. Auch Ansätze zur Bekämpfung von Viren wie SARS-CoV-2 könnten nach dem Vorbild der Fledermaus entwickelt werden. Manche Wissenschaftler gehen sogar noch weiter und sehen in den Besonderheiten des Immunsystems der Fledermaus den Grund für ihre sehr hohe Lebenserwartung. Sie widerspricht der allgemeinen Theorie, dass kleinere Säugetiere kürzer leben So werden Mäuse im Schnitt nur bis zu drei Jahre alt, während es Fledermausarten gibt, die stolze 40 Jahre erreichen.
Der Blick in den Himmel hat den Menschen in den letzten Jahrhunderten zur Überwindung seiner Natur angetrieben – und zur Erfüllung eines seiner größten Träume. Wir sind zum Mond geflogen und bewegen uns in Flugzeugen durch die Lüfte. Vielleicht kann der Blick in den Himmel uns jetzt dabei helfen, Krankheiten wie Covid-19 zu besiegen.
Von Sarah Ellwardt
Sarah Ellwardt studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2020 für den ruprecht – vor allem für das Ressort Wissenschaft. Ihr Antrieb ist es, einen Zugang zu aktuellen wissenschaftlichen Themen zu schaffen, um die Welt verständlicher zu machen. Seit Dezember 2020 leitet sie das Ressort Studentisches Leben.
Top Artikel. Noch mehr davon!