Diese Woche hat ein Semester begonnen, wie es in dieser Form noch nie stattgefunden hat. Während die Universität sich bereits neu aufgestellt hat, sehen sich Studierende der Herausforderung gestellt, ihren Alltag ebenfalls umzustrukturieren. Für einige ist es im Normalbetrieb bereits schwer, neben dem Studium auch noch die Lebenshaltungskosten zu bewältigen. Diese problematische Aufgabe hat sich nun durch die Covid-19-Krise intensiviert. Planen in unvorhersehbaren Zeiten ist fast unmöglich und sorgt für viel Unsicherheit bei den Studierenden.
Zwei Drittel aller Studierenden führen einen Nebenjob aus. Von ihnen sind laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung 59% auf dieses Einkommen zur Existenzsicherung angewiesen. Wegen der drohenden Rezession können sie sich ihrer Beschäftigung aber nicht mehr sicher sein oder haben, wie beispielsweise Angestellte im Gastronomiegewerbe, bereits keine Arbeit mehr. Viele Studierende sind auch von der technischen Infrastruktur abhängig, die unter anderem die Bibliothek bietet und welche nun wegfällt. Andere Studierende werden durch verschiedene Care-Tätigkeiten, wie Kinderbetreuung oder Pflege von älteren Verwandten, in Anspruch genommen. Auch ausländische Studierende sehen sich vor besondere Herausforderungen bezüglich ihres Aufenthaltsstatus und der Finanzierung gestellt, da sie neben den höheren Studiengebühren keinen Anspruch auf BAföG oder andere Transferleistungen haben. Diese Schwierigkeiten können sich negativ auf die Leistung im Studium auswirken.
Aus diesem Grund hat der freie Zusammenschluss von Student*innenschaften (FZS), der rund 1 Millionen Studierende bundesweit vertritt, gemeinsam mit vielen weiteren Hochschulgruppen einen studentischen Forderungskatalog zur Einführung des Solidarsemesters formuliert. Das Solidarsemester beschreibt unter verschiedenen Namen, ob Nichtsemester, Optionalsemester oder Kreativsemester dieselbe Idee: Es soll nicht der komplette Lehrbetrieb für ein Semester eingestellt, sondern das Semester an die besonderen Umstände von Covid-19 angepasst werden. Das bedeutet konkret, dass das kommende Sommersemester formal nicht zu werten wäre und Maßnahmen zur Berücksichtigung der Benachteiligten beschlossen werden sollen.
Allgemein wird eine höhere Hochschulfinanzierung verlangt, um den besonderen Anforderungen in der Organisation und Vermittlung der Lehre gerecht zu werden.
Des Weiteren heißt es in dem Katalog, dass Soforthilfen für existenzbedrohte Studierende umgehend von Bund und Ländern zur Verfügung gestellt werden müssen. BAföG-Regelungen sollen angepasst, die Studienverzögerung bei der Auszahlung von Kindergeld und Krankenkasse berücksichtigt und Studienkredite verlängert werden. Die Kapazitäten dazu sind laut Deutschlandfunk angesichts der rund 900 Mio. Euro BAföG-Mittel, die 2019 nicht genutzt wurden, vorhanden.
Genügend finanzielle Mittel sind aber noch lange kein Garant für die geforderte Lösung, wenn das Geld nicht vernünftig eingesetzt wird.
Da nun ein großer Fokus auf der Digitalisierung der Lehre liegt, würden mehr Digitalfachkräfte benötigt, die dauerhaft eingestellt werden müssten. Ebenso wichtig sei es auch, die Lehrenden fortzubilden, damit aktiv weitere Lehrformen entwickelt werden können. In diesem Zusammenhang sei es auch wichtig, alle anderen Beschäftigungsverhältnisse an der Universität ausnahmslos um sechs Monate zu verlängern.
Zur angemessenen Umgestaltung des Semesters zähle zudem die Verkürzung des Vorlesungszeitraumes, um eine bessere Vor- und Nachbereitung des Inhalts zu ermöglichen.
Nichtsdestotrotz soll weiterhin die Möglichkeit bestehen, Leistungspunkte zu erwerben.
Die anstehenden Prüfungen bereiten den Studierenden besonders Kopfschmerzen, deshalb sollen sämtliche Prüfungsfristen verlängert und Zwangs-Exmatrikulation, sowie Anwesenheitspflicht ausgesetzt werden. Darüber hinaus fordert der FZS, dass die Prüfungen im Sommersemester als Freiversuch gewertet werden und sämtliche staatliche Prüfungen, wie beispielsweise die Staatsexamina, freiwillig angetreten werden können.
Eine besondere Beachtung sollen Medizinstudenten erhalten, da diese jetzt häufig systemrelevante Tätigkeiten ausführen. Diese Tätigkeiten sollen ihnen als Studienleistung angerechnet werden. Außerdem soll ihr Studienverlauf nicht verzögert werden, um den Personalbedarf an Ärzten in Zukunft lückenlos zu gewährleisten. Dafür soll sich die Dritte Ärztliche Prüfung inhaltlich am Praktischen Jahr orientieren.
Krisen bergen die Gefahr demokratische Prozesse auszuhebeln, weil Entscheidungen nun eine besondere Dringlichkeit haben und diese durch Diskussionen aller bestehenden Meinungen in die Länge gezogen werden. Das darf aber nicht auf Kosten der Hochschuldemokratie geschehen. Im Gegenteil, es gilt nun besonders die Interessenvertretung der Studierenden zu berücksichtigen und zu schützen.
Deshalb soll wegen der fehlenden Versammlungsmöglichkeit nicht auf umfangreiche Diskussionen bei Entscheidungsprozessen verzichtet werden. Video- und Audiokonferenzen sollen genutzt werden, anstatt die Partizipation nur auf Online-Wahlen zu reduzieren. Eine weitere Möglichkeit den Problemen der Studierenden Gehör zu verschaffen bietet das Recherche-Kollektiv Correctiv. Sie haben einen Crowdnewsroom erstellt, wo sich von Corona Betroffene untereinander austauschen und helfen können.
Das Land Baden-Württemberg hat dennoch das Semester am 20. April regulär begonnen, trotz der Forderungen seitens des Freien Zusammenschluss von Student*innenschaften und der Wissenschaftler.
Auch der Heidelberger Studierendenrat hat sich in seinem offenen Brief an die Wissenschaftsministerin Theresia Bauer und den Abgeordneten des baden-württembergischen Landtags an die Forderungen des Freien Zusammenschluss von Student*innenschaften (FZS) angeschlossen.
Neben der Initiative des FZS unterstützt ein offener Brief aus Forschung und Lehre, der innerhalb von drei Tagen von über 1300 deutschen Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, die Möglichkeit eines Nichtsemesters, das im Kern dem Solidarsemester entspricht. Nach den Initiatoren der Petition müssen die Interessen der mindestens 85% prekär beschäftigten Forschenden und Lehrenden wie auch die der Studierenden berücksichtigt werden, ebenso wie die Qualität der Lehre.
Der Tenor der Initiierenden ist eine nachhaltige Unterstützung aller von Covid-19 beeinträchtigten Studierenden und weiteren im Universitätsbetrieb beschäftigten Personen. Die Forderungen nach dem Solidarsemester beschränken sich demnach nicht nur auf das Sommersemester 2020, sondern verlangen ein dauerhaftes Konzept, um an Hochschulen und in der Studierendenschaft auch nach der Krise Hilfe zu leisten, wo sie benötigt wird.
Kaoutar Haddouti