Die Straßen sind leer. Abends beleuchten sie die Laternen, am Tag schreiten nachdenkliche Spaziergänger einher. Familien lernen sich in ihren vier Wänden kennen, Singles sind kurz davor, ihre Wände anzusprechen.
Die Soziologen, die Theoretiker des Sozialen reiben sich die Hände: Endlich sind gleiche Voraussetzungen, stabile Parameter für das Untersuchungsobjekt gegeben. Endlich hält dieses ewig zappelnde Kind von Gesellschaft den Kopf still, sodass man ihm eine Frisur verpassen kann. Zynisch.
Die eigensinnigen Philosophen haben endlich die Ruhe, die sie brauchen, um all die Bücher zu lesen und all die Gedanken zu denken, die sie brauchen, um sich zu beruhigen. Für sie ändert sich im stillen Kämmerchen nicht viel: Social Distancing ist für Misanthropen eine Selbstverständlichkeit. Megazynisch.
Das Feuilleton entlädt eine Interpretationswut am Geschehen. Theoretiker melden sich aus ihrem Sessel zu Wort: „Hier bewahrheitet sich, was der Denker X gesagt hat. Hier sieht man, dass der Staat schon immer so und so war, hier wird offensichtlich, dass der Mensch so und so ist.“ Dieser verweist auf die Wahrheit jener Theorie, jener auf die Wahrheit dieser Theorie angesichts der Krise. Der Dritte reflektiert auf einer abstrakteren, an der sprunghaften Wirklichkeit geschulten Ebene das Erkenntnispotenzial, das solchen Krisensituationen innewohnt und gibt sich skeptisch oder formuliert Utopien. Propheten treten wieder auf. Die Zukunft sei nun lesbar. Natürlich nicht in Eingeweiden oder dem Flugverhalten der Vögel, sondern anhand der „Fakten“.
Ich steige in den ICE, ein bis zu 358 Meter langes Fortbewegungsmittel, das einsam an leeren Bahnhöfen steht und vor sich hin schnauft. Neben einem anderen Fahrgast bin ich allein im Wagon. Ich lege das Feuilleton beiseite. Ich habe keine Lust mehr auf Prophetie und Wahrheit zum Mitnehmen. Plötzlich nimmt mein Mitreisender seine Maske ab und stellt mir eine Frage. Ein Gespräch entspannt sich, während die Außenwelt im Fenster vorbeirauscht.
Bruno Glöckner studiert Philosophie und Germanistik im Master. Er schreibt seit dem WiSe 2019 für den ruprecht und begibt sich in Feuilleton und der Heidelberger Historie auf die Spuren der großen Dichter und Denker, die durch Heidelberg gekommen sind. Nur in seinen Glossen setzt er sich mit dem Zeitgeschehen auseinander.