Dieser Artikel erscheint im Rahmen unserer Corona-Onlineausgabe.
Das erste Organ, das man mit Covid-19 assoziiert, ist ohne Frage die Lunge. Von hier aus bahnt sich das Virus seinen Weg in den Körper und richtet schwere Schäden an. Die Lunge wird dabei stark in Mitleidenschaft gezogen und das Atmen beginnt schwerer zu fallen. Letztlich kann sogar die Sauerstoffversorgung der Betroffenen einbrechen.
Nach diesem Verständnis stellt die Lunge das primäre Zielorgan von SARS-CoV-2 dar und ist Dreh- und Angelpunkt der Krankheit. Momentan scheint sich dieses Bild jedoch zu wandeln. Anlass dafür sind die vielen unerklärlichen Komplikationen, die mit Covid-19 auftreten. Zu ihnen zählen neben Herz-Kreislauf-Problemen ebenfalls vermehrt Gefäßverschlüsse im Gehirn und Darm. Auch die Beatmung von Covid-19-Patienten gestaltete sich schwieriger als gedacht. Zuletzt stellte man sogar fest, dass sich der Zustand mancher Patienten dadurch eher verschlechterte als verbesserte.
Vor dem Hintergrund, dass Covid-19 Patienten, die unter starkem Sauerstoffmangel leiden, alle Kriterien eines ARDS („acute respiratory distress syndrome“) erfüllen, scheint diese Beobachtung durch und durch paradox. ARDS ist ein bekanntes Krankheitsbild, das einen Patienten beschreibt, der unter einem plötzlichen Lungenversagen leidet. Anhand dieser Diagnose hatte man bisher einen Anhaltspunkt in der Behandlung. Man orientierte sich an den erprobten Leitlinien für die Behandlung von ARDS, und so wurde es gängige Praxis, Covid-19 Patienten zu beatmen, wenn sie an starker Sauerstoffunterversorgung litten.
Zunehmend wurde jedoch klar, dass eine Beatmung nicht immer hilfreich ist, und dass man noch nicht das gesamte die Bild der Krankheit erfasst hatte. Im April 2020 veröffentlichte das Wissenschaftsjournal JAMA ein „Clinical Update“, um die neuen Fragen zu beantworten. Zwei international anerkannte Experten für schwere Lungenerkrankungen, Luciano Gattinoni von der Universität Göttingen und John J. Marini der Universität Minnesota, stellen in diesem Rahmen zwei unterschiedliche Typen von Covid-19 vor.
Die zwei Ausprägungsformen von Covid-19
Sie unterscheiden dabei zwischen einem Covid-19-Typen im frühen Stadium der Krankheit, dem L-Typ, und einem im späten Stadium, dem H-Typ. Beiden Typen leiden genauso wie ARDS-Patienten unter einem starken Sauerstoffmangel, der jedoch unterschiedliche Ursachen hat.
Die naheliegendste Ursache für einen Sauerstoffmangel im Körper ist, dass zu wenig Sauerstoff in die Lungen und von hier aus in den Körper gelangt. Dieser Zustand beschreibt den H-Typ und Patienten mit ARDS. Ihr Lungengewebe ist durch die Virusinfektion oder andere Einwirkungen so sehr beschädigt, dass es seine Dehnbarkeit verliert und einfällt. Diese sogenannte „baby lung“ kann beim Atmen nicht mehr alle Lungengebiete ausreichend belüften, und so kommt es zum Sauerstoffmangel. In diesem Fall ist künstliche Beatmung sinnvoll, da so die unbelüfteten Gebiete wieder „rekrutiert“ werden können. Dabei muss man bis zu einem gewissen Grad in Kauf nehmen, dass die Beatmung eine zusätzliche mechanische Belastung für die schon angegriffene Lunge bedeutet.
Die zweite Ursache, die nach Gattinoni und Marini vor allem beim frühen L-Typ einer SARS-CoV-2-Infektion eine Rolle spielt, ist eine schlecht angepasste Lungendurchblutung. Effektives Atmen hängt schließlich auch damit zusammen, wie viel vom Sauerstoffs, der seinen Weg in die Lungen gefunden hat, auch tatsächlich in der Blutbahn landet. Sind Lungengebiete, die schlecht belüftet sind, sehr stark durchblutet, wird das Blut nicht ausreichend mit Sauerstoff beladen, um die Bedürfnisse des Körpers zu decken.
Unter normalen Umständen gibt es eine Mechanismus, der das verhindert. Sobald der Körper merkt, dass in bestimmten Lungengebieten ein Missverhältnis zwischen Durchblutung und Belüftung vorherrscht, verengt er hier die Gefäße und versucht, die Durchblutung anzupassen. Dieser sogenannte Euler-Lilijestrand-Reflex ist bei Typ-L-Patienten jedoch beeinträchtigt. Ob es zu dieser Beeinträchtigung durch die lokalen Entzündungen oder durch eine allgemeine Schädigung der Gefäße durch das Virus kommt, ist nicht eindeutig geklärt.
In dieser Phase ist es nicht angebracht, eine Beatmung darauf auszurichten, mehr Lungengebiete zu „rekrutieren“. Die Lunge von Typ-L-Patienten ist größtenteils noch sehr dehnbar und gut belüftet. Nach den Lungenexperten Gattinoni und Marini geht es hier vielmehr darum, zu verhindern, dass aus dem L-Typ der schwerere H-Typ wird. Sie sehen bei diesen Patienten die Gefahr eines selbstinduzierten Lungenschadens. Das Gefühl eines Sauerstoffmangels könnte nämlich dazu führen, dass die Betroffenen deutlich häufiger und stärker atmen und dabei ihre vom Virus angegriffene Lunge zusätzlich schädigen. Diese Gefahr besteht auch bei verfrüht beatmeten Patienten. Deswegen sollte die Beatmung bei Patienten in diesem Stadium, anders als bei Typ-H-Patienten, eher unterstützend ausgerichtet sein.
Die Krankheit besser verstehen
Um allen beatmeten Covid-19 Patienten gerecht zu werden, muss man die Unterschiede im zeitlichen Verlauf beachten. Während beim frühen L-Typ die Lungendurchblutung das Problem darstellt, ist beim späten H-Typ die Lunge selbst beschädigt. Gattinoni und Marini legen deswegen nahe, die Beatmung dem einzelnen Covid-19-Typen anzupassen. Wie wichtig diese neue Betrachtungsweise ist, zeigt die Reaktion der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin deutlich. Sie veröffentlichte bereits im selben Monat ein neues Positionspapier, das ihre Empfehlungen an ihre Erkenntnisse anpasst.
Die beiden Wissenschaftler haben jedoch nicht nur dabei geholfen, die Beatmung von Covid-19 zu verstehen. In ihrem „Clinical Update“ betonen sie wiederholt, dass Covid-19 nicht nur die Lunge betrifft. Vielmehr sei das Gefäßsystems der primäre Angriffspunkt des Virus. Eine Veröffentlichung Züricher Wissenschaftler in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet im April bestätigt diese Aussage. Sie belegt, dass SARS-CoV-2 eine Entzündung auslöst, die nicht nur die Lunge betrifft, sondern alle Gefäßbetten. Neben den Lungen sind auch auch das Herz, das Gehirn und der Darmtrakt betroffen. So lässt sich nicht nur die Sauerstoffunterversorgung des L-Typs erklären, sondern auch die Herz-Kreislauf-Probleme und Gefäßverschlüsse in Gehirn und Darm. Die Erkenntnisse legen also nahe, unsere Wahrnehmung von Covid-19 zu überdenken. Mehr und mehr zeigt sich, dass die Lunge nicht das primäre Zielorgan ist, sondern nur die Eingangstür.
Von Sarah Ellwardt
Sarah Ellwardt studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2020 für den ruprecht – vor allem für das Ressort Wissenschaft. Ihr Antrieb ist es, einen Zugang zu aktuellen wissenschaftlichen Themen zu schaffen, um die Welt verständlicher zu machen. Seit Dezember 2020 leitet sie das Ressort Studentisches Leben.