Dieser Artikel erscheint im Rahmen unserer Corona-Onlineausgabe.
Ach, Corona. So vielen von meinen Plänen hast du schon einen Strich durch die Rechnung gezogen, so viele schlaflose Nächte hast du mir bereitet, doch ich glaube, was ich dir am meisten in meinem Leben übel nehme, ist die Verlagerung des Semesters zur Online-Lehre. Wie soll ich es jemals schaffen, auch nur ein Fünkchen Produktivität aufzuweisen, wenn man mich zu nichts zwingt? Meine Vorlesungen werden online hochgeladen und gelegentlich gibt es eine Seminarsitzung, die eigentlich verpflichtend ist, aber weil man das über das Videokonferenz-Tool heiCONF sowieso nicht nachweisen kann, in meinem Gehirn eher als fakultativ eingestuft wird.
Es ist eindeutig: Ich brauche einen Tagesrhythmus. Und so beschließe ich, mich sieben Tage lang an einen solchen zu halten. Das heißt, ich gebe die genauen Uhrzeiten an, wann ich mit einer Aufgabe anfangen werde und wann ich sie beende. Alles muss strukturiert sein, denn dann schaffe ich es vielleicht, diese sagenumwobene Produktivität in mein eigenes Leben einzuführen. Es ist Tag Null, ich stelle mir neun Wecker auf 8:30 und lege mich ins Bett.
Am ersten Tag bin ich todmüde. Vielleicht haben die sechs Stunden Schlaf doch nicht gereicht. Aber ich habe mich diesem Rhythmus verpflichtet und somit spritze ich mir lediglich kaltes Wasser ins Gesicht und starte in den Tag. Schon vor 13 Uhr habe ich mein Referat fertig bearbeitet, Organisatorisches für den ruprecht erledigt und Yoga gemacht. Ich fühle mich unbesiegbar. Auch sonst verläuft der Tag nach Plan, obwohl ich bemerke, dass es mich sehr viel Überwindung kostet, rechtzeitig mein Handy wegzulegen und nicht in den Social-Media-Vortex reinzugeraten. Trotz einiger kleiner Aussetzer, in denen ich etwa zehn Minuten später anfange als geplant, falle ich zufrieden und zur richtigen Uhrzeit ins Bett.
Der zweite Tag beginnt schon mit etwas weniger Motivation. Es ist ein grauer, regnerischer Tag und ich fühle mich trotz acht Stunden Schlaf nicht ansatzweise ausgeschlafen. Trotzdem raffe ich mich auf und mache mich ran an die Arbeit. Wieder schaffe ich den größten Teil meiner Aufgaben, doch dieses Mal lockt mich meine Müdigkeit in eine Falle. Nach einem Abendspaziergang beschließe ich, mich “kurz hinzulegen” und schlafe fast bis Mitternacht. Mein gesamter Abendplan fällt somit ins Wasser und mein Schlafrhythmus gleich mit. Meine Motivation schwindet.
Der dritte Tag ist ein Montag und ich bin trotz allgegenwärtiger Müdigkeit bereit, die neuen Vorlesungen und Übungsblätter abzuarbeiten. In nicht allzu langer Zeit stellt sich allerdings heraus, dass das so nicht funktionieren wird. Die eine Vorlesung hat keinen Ton, die andere wird ohne Mitteilung erst zwei Tage später hochgeladen. Ich versuche Empathie für meine Dozenten aufzuweisen, da sie offensichtlich mit der Technik überfordert sind. Doch ich verfluche sie auch; mein Zeitplan ist heute ein absoluter Reinfall und dadurch verschiebt sich meine gesamte Wochenplanung. Als ich mich schlafen lege, bin ich enttäuscht.
Diese Enttäuschung wirkt sich auch auf den nächsten Tag aus. Ich bleibe eine halbe Stunde länger liegen als geplant und blicke mit einer so geringen Motivation wie noch nie von meinem Bett aus auf mein Schreibtisch. In meinem Zeitplan steht “9:30-11:00 Bewerbungen schreiben” und danach lediglich eine Reihe an Vorlesungen, die ich abarbeiten muss. Zu letzterem komme ich aber gar nicht, denn aus anderthalb Stunden Bewerbungen werden fünf Stunden – nicht weil mich die Aufgabe anstrengt, sondern weil meine Gedanken ständig abschweifen und ich alle fünf Minuten zum Handy greife. An meiner Statistik-Vorlesung sitze ich somit bis nachts und beschließe, morgen offiziell eine spätere Uhrzeit zum Aufstehen anzustreben.
An Tag fünf wache ich um 11:00 auf. Ich habe mir einen Plan zurecht geschrieben, doch ich halte mich an keinen einzigen Punkt. Und doch erledige ich die doppelte Menge an Aufgaben als am Vortag. Auch der sechste Tag läuft so. Ich merke, dass ich einen eigenen Rhythmus entwickle, einen natürlichen Rhythmus. Selbstverständlich schaffe ich nicht so viel, wie ich mir am Vortag vorgenommen hatte, aber einiges mehr als an den Tagen, an denen ich ich krampfhaft versuchte, mich an einen rigorosen Tagesplan zu halten. Am siebten Tag erstelle ich mir nur noch einen Zeitplan, weil es theoretisch noch Teil des Selbstversuches ist. Ich nehme mir nicht vor, mich daran zu halten. Und das ist in Ordnung so.
Ich merke, der Zeitplan ist nichts für mich, denn ich fühle mich nicht wohl dabei, jede Minute meines Tages durchzuplanen. Das muss aber nicht heißen, dass ich einen unstrukturierten Tag habe. Ich setze mir feste Zeiten zum Essen und halte diese ein, egal was ich gerade in diesem Moment tue. Ich mache Sport und gehe spazieren und fühle mich wohl dabei, weil ich es nicht tue, um einen Zeitplan zu erfüllen, sondern weil ich wirklich Lust darauf habe. Es gibt Tage, an denen ich weniger erledige, aber wir sind inmitten einer globalen Pandemie, um Himmels willen. Wir sollten uns fragen, warum wir denn überhaupt jede Minute mit Produktivität füllen müssen. Jegliches Zeitgefühl, welches ich einst mal besaß, ist verschwunden. Es könnte gut sein, dass ich mein Studium abschließe und wegen einer Rezession keinen Arbeitsplatz bekomme. Da sei es uns doch genehmigt, uns auch mal ein wenig Auszeit zu nehmen, oder nicht?
von Natascha Koch
Natascha Koch studiert Politikwissenschaften und Geschichte und schreibt seit 2019 für den ruprecht. In ihren Artikeln dreht es sich um aktuelle politische und gesellschaftliche Trends und alles, was die Welt bewegt – oder auch nur das Internet. Seit 2020 leitet sie das Ressort für die Seiten 1-3.