64,5 Zentimeter lang, 2,9 Zentimeter breit und 264 Gramm schwer, Fichtenholz. Der Querschnitt asymmetrisch, eine Seite leicht gebogen, die andere abgeflacht – auf den ersten Blick wirkt der Fund, den Archäologen des Senckenberg-Zentrums für menschliche Evolution und Paläoumwelt der Universität Tübingen und der Universität Lüttich im niedersächsichen Schöningen ausgegraben haben, nicht sonderlich spektakulär. Der 300 000 Jahre alte Wurfstock liefert jedoch Erkenntnisse über die Entwicklung prähistorischer Jagdtechniken. Auf diese Weise gewährt er Einblicke in die Lebens- und Jagdgewohnheiten des Homo heidelbergensis.
Bei diesem wohlklingenden Namen handelt es sich um einen Vertreter der Gattung Homo und somit um einen Vorfahren des modernen Homo sapiens. Er lebte von vor etwa 600 000 bis vor 200 000 in Europa, Afrika und vielleicht auch Asien. Benannt wurde er nach dem Fund eines Kieferknochens in Mauer, einer Gemeinde, die 17 Kilometer südöstlich von Heidelberg liegt. Überreste des Homo heidelbergensis wurden jedoch unter anderem auch in Tansania, Sambia, Frankreich und Griechenland gefunden. Die taxonomische Einordnung der Funde war jedoch lang unklar. So wurden sie anfangs in der Regel Homo erectus, dem ersten aufrecht gehenden Menschen zugeordnet. Später kam auch in Frage, dass Homo heidelbergensis wie der Neandertaler der Gruppe des archaischen Homo sapiens zugehört. Diese Gruppe ist jedoch sehr heterogen, aber unter modernen Menschen gibt es längst nicht so weitreichende Unterschiede. Daher sieht man Homo erectus, den Neandertaler und Homo heidelbergensis heute als jeweils eigenständige Arten der Gattung Homo. Dabei sehen manche Wissenschafgler Homo heidelbergensis heute als gemeinsamen Vorfahren des Neandertalers und des modernen Homo sapiens.
Der Wurfstock ist dabei nicht der erste brisante Fundgegenstand aus Schöningen. Das Braunkohlegebiet, in dem der Wurfstock ausgegraben wurde, wird bereits seit 1983 für archäologische Ausgrabungen genutzt. Die wassergesättigten Seeufersedimente Schöningens erlauben laut Nicholas Conard, dem Leiter des Senckenberg-Zentrums erst die Ausgrabung von derart gut erhaltenen Fundstücken aus Holz. Gerade die Fundschicht, aus der der Wurfstock stammt, war seit den 1990er Jahren bereits mehrmals Fundort prähistorischer Waffen und Werkzeuge, darunter eine Stoßlanze und andere Holzwerkzeuge, deren Funktion teils noch nicht ganz klar ist.
Am bekanntesten sind aber wohl die Schöninger Speere, eine Ansammlung von neun hölzernen Wurfspeeren, deren Alter auf etwa 337 000 Jahre geschätzt wurde. Für die archäologische Forschung stellte dieser Fund eine wahre Sensation dar. Sie blickte nun nicht nur auf die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Welt, sondern zudem auch auf ein völlig neues Bild des Homo heidelbergensis. Bis zum Fund der Speere wurde diesem Vorfahren des modernen Menschen seitens der Wissenschaft vor allem eine pflanzen- und aasbasierte Ernährung zugeschrieben. Technisch ausgefeilte Waffen oder gar koordinierte Jagd hätten demnach weit jenseits seines Horizontes gelegen. Die Entdeckung der Schöninger Speere änderte dieses Bild jedoch. Nun wurde klar, dass Homo heidelbergensis nicht nur mit Fallen jagen konnte. Für die aktive, verfolgende Jagd konnte er sich auch selbst geeignete Waffen herstellen.
Das neu entdeckte Wurfholz kann dieses Wissen nun ausbauen. Im mittleren Bereich des Stabs wurden Einschlagsspuren identifiziert, die in ähnlicher Form auch an australischen und tasmanischen Wurfhölzern gefunden werden konnten. Diese Gebrauchsspuren belegen somit die Funktion des Gegenstands als Wurfwaffe zur Jagd. Die Wurftechnik bei der Verwendung des Stocks lässt sich durch seine modernen Pendants in Nordamerika, Afrika und Australien nachvollziehen. So rotiert der Stock während des Wurfes und wird, im Gegensatz zu den australischen Bumerangs, in einer geraden Linie geworfen. Die hohe Treffgenauigkeit dieser Jagdtechnik erlaubte wohl die Jagd auf Wasservögel, aber auch auf größere Tiere wie etwa Pferde, die durch die Wurfstöcke vor der Jagdgruppe hergetrieben wurden. Nachbauten des Wurfstocks erreichten bei Versuchen eine Geschwindigkeit von bis zu 30 Metern pro Sekunde.
So unscheinbar das Schöninger Wurfholz auf den ersten Blick nun also auch sein mag, hat uns dieser Fund doch einiges zu erzählen: über unsere Urahnen, darüber, wie sie gelebt haben, und letztendlich auch, dass sie uns doch ähnlicher waren, als wir uns erhofft haben.
Von Carina Sacher