Sollte die Universität Heidelberg aufgrund der Covid-19 Pandemie ein Solidarsemester einführen?
Annalena Wirth ist Pressesprecherin im Referat für Öffentlichkeitsarbeit des Studierendenrats
Sollte die Universität Heidelberg aufgrund der Covid-19 Pandemie ein Solidarsemester einführen?
Wir befinden uns im Mai, einige Wochen nach Start des Onlinesemesters. Was zu Beginn als anfängliche technische Schwierigkeiten bezeichnet wurde, hat sich immer noch nicht eingependelt. Live-Veranstaltungen funktionieren kaum, es wird immer noch herum experimentiert, Veranstaltungsmaterial wird zu spät hochgeladen, oder sie fallen ganz aus. Seit Beginn der Corona-Pandemie haben den Studierendenrat 50 Anfragen für das Notfallstipendium erreicht – das sind innerhalb der letzten zwei Monate mehr als im gesamten Jahr 2019. Studis geraten in finanzielle Notlagen, denken darüber nach ihr Studium abzubrechen – oder arbeiten jeden Tag auf dem Spargelfeld, um sich zumindest ihre Miete leisten zu können – für Vorlesungen bleibt da kein Platz. Land, Bund und auch unsere eigene Uni sind trotzdem weiterhin der Meinung: „Das wird ein normales Semester.“ – Alle Studis und viele Lehrende sind sich mittlerweile sicher: Dieses Semester ist alles andere als ein normales Semester. Damit Studis nicht noch jahrelang beruflich und finanziell darunter zu leiden, brauchen wir das Solidarsemester.
These 1: Viele Studierende leiden an psychischen Krankheiten und sind in der momentanen Ausnahmesituation nur eingeschränkt studierfähig.
Nebenjob verloren, wieder zu den Eltern gezogen, wo die technische Infrastruktur schlecht ist, Kinder zuhause, die Homeschooling und Betreuung brauchen – das ist für viele Studierende gerade Alltag. Das Studium steht da gerade zwangsweise hinten an.
Eine globale Pandemie und die damit verbundenen Veränderungen im alltäglichen Leben wirken sich auch auf die Psyche vieler Studierender aus – die Krise bringt Angst und Planungslosigkeit mit sich, wirkt sich auf unsere Stimmung und Motivation aus. Alltägliche Routinen sind für viele Menschen wichtig, diese haben sich erheblich verändert, ein normaler, geregelte Tagesablauf ist durch asynchrone Lehre teilweise gar nicht möglich. Auch der fehlende soziale Kontakt und die Trennung zwischen Pause und Arbeit machen vielen zu schaffen, auch wenn sie nicht psychisch vorbelastet sind.
These 2: Studierende können bequem und flexibel, unabhängig von Zeit und Ort, an allen Veranstaltungen teilnehmen.
Es zeigt sich gerade in dieser Zeit, dass Hochschulbildung eben nicht kostenlos und für alle verfügbar ist – wer zuhause keinen PC, eine stabile Internetverbindung und das Geld für Lehrbücher hat, der kann zurzeit nur eingeschränkt am Lehrbetrieb teilnehmen. Alternativen oder Hilfsmittel sind kaum vorhanden – Studis sind auf sich selbst gestellt.
Viele Studierende bemängeln vor allem die Livestream-Vorlesungen; nach 90 Minuten ständigem Neu-Laden der Seite und Unterbrechungen bleibt statt Lernstoff eher Frustration hängen. Danach muss der Inhalt nachgearbeitet werden – das bedeutet doppelten Zeitaufwand.
Dennoch sind Dozierende, die Livestreams anbieten, wohl die bessere Variante – andere laden 2 Seiten PDF-Zusammenfassungen hoch, die wohl kaum den gleichen Stoff umfassen, der in einer Vorlesung ausführlich ausformuliert werden würde. Um trotzdem dabei zu bleiben erwerben viele Studis privat Lehrbücher oder andere Lernmaterialien – Onlinesemester kosten Geld.
These 3: Weil Dozierende die Verantwortung von Online-Sitzungen auf Studierende übertragen, wird der Lernstoff nur mangelhaft vermittelt.
Die Universität Heidelberg schmückt sich mit der hohen Qualität ihrer Lehre – die Lehre in diesem Semester wird definitiv nicht den Ansprüchen entsprechen können, die wir selbst an uns stellen.
Der Studierendenrat fordert deshalb ein Solidarsemester, ein Nichtsemester, ein Flexisemester – wie auch immer man es nennen mag.
Ein Solidarsemester bedeutet NICHT, dass das Sommersemester hinfällig wird – im Gegenteil: die Erbringung aller Leistungen soll möglich gemacht werden.
Das Solidarsemester ermöglicht lediglich denjenigen, die aufgrund finanzieller, sozialer oder psychischer Probleme ihr Studium nicht wie gewohnt fortsetzen konnten, das Semester ohne negative Konsequenzen auf ihren BAföG-Bezug und ihre akademische Laufbahn pausieren zu können.
Von Hannah Steckelberg und Vivien Mirzai
Dieser Artikel erscheint im Rahmen unser Corona-Onlineausgabe
Hannah Steckelberg studiert Osteuropastudien und Germanistik im Kulturvergleich. Seit 2016 ist sie beim ruprecht – erst nur als Fotografin, seit 2017 auch als Autorin. Am liebsten schreibt sie Reportagen aller Art sowie ihre Kolumne “Hochschule bleibt stabil”. 2019/20 leitete sie zwei Semester lang das Ressort Seite 1-3, inzwischen lebt sie in Wien.
Vivien Mirzai studiert Politikwissenschaften und Germanistik im Kulturvergleich seit dem Wintersemester 2019/20. Seit Oktober 2019 schreibt sie für den ruprecht über Wissenschaft, Internationales und Rassismus. Sie wechselt zum Wintersemester 2020 in die Ressortleitung Feuilleton.