Im Wintersemester 2019/20 studierten 2321 Frauen Medizin an der Universität Heidelberg. Im Sommersemester 1900 waren es drei: Rahel Goitein, Irma Klausner und Else von der Leyen. Klausner und von der Leyen blieben beide nur ein Semester lang in Heidelberg; aber Rahel Goitein blieb.
Rahel Goitein wurde 1880 als Tochter des orthodoxen Rabbiners Gabor Goitein und der Volksschullehrerin Ida Goitein in Karlsruhe geboren, wo sie 1899 am Mädchengymnasium ihr Abitur ablegte. Nach dem Abitur belegte Goitein als Gasthörerin Vorlesungen in Altfranzösisch. Ab Februar 1900 erlaubte das Land Baden Frauen den Zugang zum regulären Studium. Rahel Goitein war eine von drei Studentinnen, die sich im Sommersemester 1900 für Medizin einschrieb.
1901 gründete Goitein die „Vereinigung studierender Frauen“ in Heidelberg, deren Vorsitzende sie mehrere Jahre lang blieb. Dagegen grenzte sie sich deutlich von der schlagenden jüdischen Studentenverbindung Badenia ab. Ein Jahr später bestand Goitein ihr Physikum – außer in Botanik durchgehend mit der Note „Sehr gut“. 1905 legte Goitein ihr Staatsexamen in Medizin ab und heiratete den jüdischen Juristen Elias Straus. Statt allerdings, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich, ihre Ausbildung zu beenden und als Hausfrau zu arbeiten, studierte Rahel Straus weiter. Sie promovierte 1907 über Choriokarzonome (aggressive Tumoren der Plazenta) und gründete im Jahr darauf in München ihre eigene Gynäkologiepraxis. Straus war somit nicht nur die erste Medizindoktorandin in Heidelberg, sondern auch die erste nicht im Ausland ausgebildete Ärztin Deutschlands, sowie die erste niedergelassene Gynäkologin.
Als Ärztin und Feministin kämpfte Rahel Straus schon vor über 100 Jahren für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs (der auch heute noch illegal, wenn auch unter Umständen straffrei ist). Die überzeugte Zionistin war politisch aktiv, organisierte sich in der „Women’s International Zionist Organisation“ und in einigen Gremien der Münchner Räterepublik von 1918, unter anderem dem Frauen- und Arbeiterrat. In München lernte sie den damals schon recht bekannten Physiker Albert Einstein kennen; die beiden wurden Freunde und trafen sich regelmäßig in der Wohnung der Straus‘ zu Kaffee, Kuchen und Diskussionen.
Aufgrund der „Nürnberger Gesetze“ erfuhr das Ehepaar Straus institutionalisierten und unerträglich werdenden Antisemitismus und Ausgrenzung, Rahels Praxis wurde boykottiert. Elias Straus starb im selben Jahr an Krebs; kurz darauf emigrierte Rahel Straus mit zwei ihrer fünf Kinder nach Palästina. Dort arbeitete sie weiterhin als Ärztin. 1952 gründete sie den israelischen Ableger der „Women’s International League for Peace and Freedom“, der ältesten internationalen Frauenbewegung der Welt. Sie blieb bis zu ihrem Tod Ehrenpräsidentin der Organisation. Auch in der Rente setzte Rahel Straus sich nicht zur Ruhe: Ab 1940 war sie in der Einwanderer- und Altenhilfe sowie in der Fürsorge für geistig behinderte Menschen aktiv.
1961 erschien ihre Biografie „Wir lebten in Deutschland. Erinnerungen einer deutschen Jüdin 1880 – 1933“. Rahel Straus starb 1963 in Jerusalem. In Karlsruhe und München sind Straßen nach Rahel Straus benannt – in Heidelberg ist der ersten Medizinstudentin der Stadt keine Straße gewidmet.
von Hannah Steckelberg
Hannah Steckelberg studiert Osteuropastudien und Germanistik im Kulturvergleich. Seit 2016 ist sie beim ruprecht – erst nur als Fotografin, seit 2017 auch als Autorin. Am liebsten schreibt sie Reportagen aller Art sowie ihre Kolumne “Hochschule bleibt stabil”. 2019/20 leitete sie zwei Semester lang das Ressort Seite 1-3, inzwischen lebt sie in Wien.