Dieser Artikel erscheint im Rahmen unserer Corona-Onlineausgabe.
Ein regnerischer Tag Anfang Februar. Ich sitze mit einem halb ausgetrunkenen Latte Macchiato auf einem gepolsterten Stuhl im „Friedrich“ und starre gebannt auf meinen Laptop. Mit halb zugekniffenen Augen lese ich konzentriert zum hundertsten Mal die Zeilen auf meinem Computer, die ich eigentlich, nach schier endlosem Probelesen bereits auswendig kann: „Und daher wäre ein Auslandsjahr für mich persönlich wie akademisch eine Bereicherung und würde einen essentiellen Baustein in meiner späteren Laufbahn darstellen“. Ich klappe den Laptop zu, trinke den letzten Schluck aus und gehe. Im Gepäck trage ich nicht nur ein fertiges Motivationsschreiben, sondern einen Text, der vor Energie, Vorfreude und Reiselust nur so strotzt. So ähnlich endeten wohl viele der, mit Herzblut geschriebenen Bewerbungen für ein Auslandsjahr mittels des Förderungsprogramms Erasmus.
Und dann kam er, der Virus, das C-Wort. Unaufhaltsam rückte die Infektionswelle auf uns zu und entlud sich in fast jedem Europäischen Land. Trotz der tagtäglich in die Höhe schießenden Infektionszahlen, redete ich mir zu dieser Zeit tagtäglich ein, dass der ganze Spuk im September, wenn mein Erasmusjahr starten soll, schon längst vorbei sein wird. Aus heutiger Perspektive ein wohl mehr als realitätsferner Gedanke.
Während ich noch kaffeeschlürfend an meinem Bewerbungsschreiben bastle, waren die zuständigen Erasmuskoordinatoren hier in Heidelberg nach eigenen Angaben hinsichtlich des Virus deutlich panischer. Bereits Ende Februar wurde laut der zuständigen Erasmuskoordinatorin die Entscheidung getroffen, den Erasmus Schützlingen insbesondere im Bereich Italien zur Heimreise zu raten, wohlwissend welche Enttäuschung und Frustration damit einhergehen würde. Zu diesem Zeitpunkt war diese Region selbst noch nicht vom RKI als Risikogebiet eingestuft worden.
Mich selbst trifft der Realitätsschlag dann erst viel später, eines Morgens in meinem alten Kinderzimmer zu Hause während der sogenannten „Corona Ferien“. Gerade aufgewacht stockt mir der Atem, als ich auf die Schlagzeile der Tagesschau blicke: Großbritannien, mein Gastland, verhängt ab Juni eine Einreisesperre.
Von dieser Nachricht erschlagen trifft mich letztendlich die Erkenntnis: das war’s dann wohl fürs Erste. Im anhaltenden Schockzustand setzte ich mich einige Minuten später an meinem Schreibtisch und ergieße all meine Fragen in eine lange Mail. Ob und welche Antworten ich auf meine Fragen tatsächlich haben will, weiß ich selber nicht.
Diese Unsicherheit spiegelt sich auch auf der anderen Seite der Erasmuskoordination wider. Die einzige fundierte Antwort, die laut den zuständigen Erasmuskoordinatoren guten Gewissens geben werden kann, heißt: Seid flexibel. Niemand kann sagen, wie sich die Pandemie weiterentwickelt, ob es eine zweite Welle geben wird und wie die unterschiedlichen Exit-Strategie der einzelnen Länder aussehen werden. Während einige Partneruniversitäten den Austausch für das Wintersemester 2020/2021 bereits komplett abgesagt haben, lautet es auf anderen Universität-Websites noch optimistisch, dass das Semester so wie geplant stattfinden wird.
Ich gebe mein Bestes mit meiner jetzigen Situation umzugehen, schmiede Plan A, B und C und verfalle dann doch zeitweise in Panik. Durch die anhaltende Ungewissheit fühle ich mich hilflos, alleine und zeitweise auch alleingelassen. Mein Kopf schwankt zwischen dem Gedanken alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und der Stimme, die mir rät, alles ein Semester zu verschieben. Aus rein akademischer Perspektive wäre ein virtuelles Auslandssemester nach Angaben der zuständigen Erasmuskoordinatoren weiterhin durchaus sinnvoll. Viele Universitäten haben laut der Zuständigen große Fortschritte in ihren Online-Modulen gemacht und in der neuen Erasmusphase 2021-2027 ist eine Förderung von kürzeren Aufenthalten in Verbindung mit virtuellen Kursen vorgesehen. Doch ein Auslandsaufenthalt ist für alle Beteiligte nicht nur auf den akademischen Aspekt beschränkt.
Was bleibt von der Grundidee von Erasmus, wenn der kulturelle Austausch in all seiner Hülle und Fülle fast vollkommen oder auch nur teilweise wegfällt?
Auf der anderen Seite sind die Kapazitäten der meisten Gastuniversitäten und Städte, so wie auch die Größe Heidelbergs, begrenzt. Sollte jeder Studierende seinen Auslandsaufenthalt verschieben, so käme es laut der Erasmuskoordinatoren zu Kapazitätsproblemen. Darüber hinaus wird ein Erasmusstipendium grundsätzlich nur für ein akademisches Jahr vergeben, um den Studierenden des nächsten Jahres ebenfalls eine faire Chance auf einen Förderungsplatz einzuräumen. Bezogen auf meine Situation heißt dies, dass aus dem geplanten Jahr aller Wahrscheinlichkeit nach sechs Monate wegfallen würden.
Schlussendlich habe ich mich dazu entschieden erstmal abzuwarten. Abzuwarten, Tee zu trinken und mich darin zu üben so spontan und flexibel wie möglich zu sein.
Von Lina Abraham
...hat während der Coronapandemie ihre Liebe zum Schreiben und zum ruprecht entdeckt und war bis zum Ende ihres Studiums in Heidelberg Teil der Redaktion. Sie leitete das Ressort „Seite 1-3“ und erlebte, wie der ruprecht im Jahr 2021 als beste Studierendenzeitung Deutschlands ausgezeichnet wurde. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Recherche über das Unternehmen „Heidelberg Materials“ und dessen Umgang mit Menschenrechten in Togo. Lina ist weiterhin journalistisch aktiv und schreibt für das Onlinemagazin Treffpunkteuropa. Zudem ist sie als Podcast Autorin beim BdV tätig und berichtet über Flucht und Vertreibung in Europa.