Wissenschaft gleicht heute einer Seifenoper. Wer bist du: Team Drosten oder Team Kekulé? Und wenn ja, wie kannst du nur? Wissenschaftler*innen werden in die Öffentlichkeit und Politik gedrängt – ob sie wollen, oder nicht. Sie müssen mitspielen. Weil die BILD das so will. Weil uns langweilig ist. Es passiert ja sonst nichts.
Zuletzt entfachte ein konstruierter und inszenierter Gelehrtenstreit zwischen den Virologen Christian Drosten und Alexander Kekulé – mittendrin die Bild. Klar, ein Skandal um die Bild ist weder neu noch überraschend. Dennoch ist er der Rede wert, wenn es um verantwortungsvollen Journalismus geht. Und dazu gehört es heute gerade auch, verantwortungsvoll über Wissenschaft zu berichten. Mehr denn je steigt die Nachfrage in der Gesellschaft nach wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das haben auch Zeitungen erkannt – und sich darauf gestürzt. Schon kleine Zwischenergebnisse von Studien werden mit PR-Tamtam und Megafon publiziert. Sie finden ihren Weg in die Schlagzeilen und lesen sich jedes Mal so, als handele es sich um eine Weltsensation. Oder eben im Fall Bild: als handele es sich um eine grundfalsche Studie, aufgrund derer die Freiheit unserer Kinder eingeschränkt wurde.
Hier spielen verschiedene Probleme ineinander ein. Erstens sind wissenschaftliche Prozesse langsamer als die Nachfrage nach Ergebnissen, vor allem in einer Pandemie. Das Virus kursiert seit etwas über einem halben Jahr in China, in Deutschland seit etwa vier Monaten. Lang ist das nicht. Doch die ganze Welt will wissen: Wann kommt der Impfstoff? Wie hoch ist die Sterblichkeit? Wer hilft uns? Es ist schwer auszuhalten, dass wir noch nicht alles wissen können. Virolog*innen arbeiten weltweit mit Hochdruck an einem Impfstoff und versorgen uns regelmäßig mit neuen Studien. Diese wichtige und lebensrettende Arbeit sollten wir nicht herunterspielen und zu viele und zu schnelle Antworten verlangen.
So kommen wir zum zweiten Punkt: Meist sind wissenschaftliche Ergebnisse differenzierter und kleinteiliger, als von ihnen verlangt wird. Studien antworten selten mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ auf Fragen wie: „Werden wir eine zweite Welle erleben?“ oder „Was müssen wir tun, um die Pandemie einzudämmen?“. Dazu sind die Fragen viel zu weit gefasst. Und die Antworten, die seriös gegeben werden können, viel differenzierter. Typischer sind eher Studien, die in einer Kohorten-Analyse einen bestimmten Wirkstoff untersuchen. Oder Arbeiten, die herausfinden wollen, welche Methode die beste ist, um Abstriche zu entnehmen. Wissenschaftliche Arbeit ist minutiös und kleinteilig.
Außerdem besteht Wissenschaft aus Diskurs. Wenn ein Paper zu einem bestimmten Ergebnis veröffentlicht wird, heißt das noch lange nicht, dass andere Studien nicht zu anderen Ergebnissen kommen können – so funktioniert Wissenschaft eben. Unklarheiten, Widersprüche, Neuanalysen und Meinungsverschiedenheiten gehören dazu. Forscher*innen diskutieren tagtäglich darüber, welche Methode, welches statistische Mittel, welcher Versuchsaufbau am besten ist. Auch der Streit zwischen Drosten, BILD und Kekulé fällt in diese Sparte. Drostens vorveröffentlichte Studie wies Fehler auf. So weit, so normal. Das kann man auf dem formalen Weg kritisieren, oder eben über sensationalistischen Kampagnenjournalismus in einer Boulevardzeitung. Was eleganter und konstruktiver ist, liegt auf der Hand. Seriöse Kritik sorgt für Ausbesserung, deshalb freute sich auch Drosten promt so sehr, dass er einen wissenschaftlichen Kritiker in sein Team einlud. Alles kein Thema – wäre da nicht die Bild gewesen.
Es gibt wenig zu berichten, wenn keine Veranstaltungen stattfinden können und die ganze Gesellschaft mit einem einzigen Thema beschäftigt ist. Dann stürzt man sich eben auf das, was da ist. Und wenn man nicht täglich eine krasse Schlagzeile bringen kann, so sucht man sich eine. Was für manch eine Boulevardzeitung Gang und Gäbe ist, stellt wiederrum Lokalzeitungen vor die Wahl: wegen mangelnder Inhalte untergehen oder unseriös berichten? Nicht jedes Blatt wird unversehrt aus der Krise hervorkommen. Der Online-Bereich boomt zurzeit und es wird mehr geklickt denn je. Aber will man sich nach der Logik des Klickens richten? Sich die provokanteste Schlagzeile ausdenken, auch wenn sie den Inhalt verzerrt? Verantwortungsvoller Journalismus geht so nicht.
Letztlich fehlt es auch an Wissen über Wissenschaft. Das Lesen und Beurteilen von Studien lernt man höchstens an der Universität kennen, dem Großteil der Gesellschaft bleibt dies verwehrt. Das Befassen mit den wissenschaftlichen Abläufen steigert das Vertrauen darin. Weiß man von alldem nichts, so wirkt es natürlich skandalös, wenn ein Experte den anderen scharf kritisiert. Und natürlich überfordert es, wenn täglich neue Erkenntnisse hinzukommen, die sich teilweise widersprechen. Wieso wird dann aber grundsätzliches wissenschaftliches Arbeiten nicht in der Schule gelehrt? Wissenschaftliche Prinzipien wie Wiederholbarkeit oder Verblindung müssten nicht nur im akademischen Milieu ein Begriff sein. Zudem sollte es zur Praxis jeder*s Wissenschaftlers*in gehören, die Studie in einfachen Worten zusammenzufassen. Fachsprache ist nötig, um korrekt zu arbeiten. Trotzdem ist sie zwangsläufig elitär, deshalb muss man zumindest den Versuch unternehmen, komplexe Sachverhalte für jede und jeden zugänglich zu machen.
Und auch Journalist*innen haben eine große Aufgabe. Sie sind das Sprachrohr der Wissenschaft und bereiten sie für die Gesellschaft auf. Der Konflikt, Forschung richtig darzustellen und gleichzeitig nicht zu sehr zu vereinfachen, ist schwer auflösbar. Und benötigt dennoch immer wieder unser Bemühen. Wissenschaftskommunikator*innen wie Mai Thi Nguyen-Kim sind ein gutes Beispiel dafür, wie Wissenschaft mit all ihren Eigenheiten für jede Altersgruppe und jeden Bildungsstand aufgedröselt werden kann. Ein weiterer Vorteil ihres Formats liegt darin, dass sie über YouTube vorwiegend die jüngere Generation erreicht. Vorbildlich ist zum Beispiel, dass sie immer verschiedene Positionen darstellt, Studien differenziert betrachtet und auch Kritik ausgewogen darstellt.
Kritik muss momentan auch an der Wissenschaft selbst geübt werden. Sie funktioniert im Pandemie-Modus etwas anders als sonst. Studien werden viel häufiger und mit großem Medienwirbel publiziert. Da kommt natürlich die Frage auf, wie Qualität so noch sichergestellt werden kann. Manche Autoren argumentieren, dass in der Pandemie zunehmend methodisch schwache Studien ihren Weg in die Journals fänden. Sie mahnen, dass auch jetzt wissenschaftliche Qualitätsstandards eingehalten werden müssten und das Peer-Review-Verfahren nicht allein Journalist*innen überlassen werden solle. Damit Politiker*innen sinnvolle Entscheidungen treffen können, sei gerade jetzt sorgfältige Forschung wichtig.
Auch sogenannte Preprints sind auf dem Vormarsch. Dabei handelt es sich um Studien, die noch nicht den formalen Prozess des Peer Review durchlaufen haben. Sie werden auf Preprint-Servern hochgeladen und können dort gelesen und beurteilt werden – ohne Gewähr. Das kann den Vorteil bieten, dass Details noch verbessert werden können, bevor die Studie veröffentlicht wird. Auch dass bereits kleine Zwischenergebnisse miteinander geteilt werden, hilft der globalen wissenschaftlichen Community, gemeinsam das Virus zu erforschen. Problematisch ist das, wenn eine Studie erhebliche Fehler aufweist und so die Beachtung findet, die sie im Peer-Review-Verfahren nicht bekommen hätte. Dann haben womöglich nicht nur Expert*innen, die solche Fehler erkennen können, die Hauptaussagen des Papers bereits mitgenommen. Demagogen entnehmen den Studien gerne die Aussagen, die ihnen ins Weltbild passen, und verzerren so den wissenschaftlichen Stand.
Die Wissenschaft steht also vor allerlei Problemen. Obwohl sie momentan noch nie dagewesene Beliebtheit genießt, muss auch sie sich immer wieder rechtfertigen und erklären. Und auch denen, die nichts mit Wissenschaft am Hut haben, kommt eine große Aufgabe zu. Wir müssen uns mehr mit ihr beschäftigen, lange, einordnende Artikel lesen oder Podcasts hören und ihre Grundlagen lernen. Dann können wir darauf vertrauen, dass wir Schlagzeilen besser beurteilen können und so auch der Wissenschaft an sich mehr Vertrauen schenken.
Von Xenia Miller
Xenia Miller studiert Politikwissenschaften und Soziologie und schreibt seit Sommersemester 2018 für den ruprecht. Sie schreibt von verkalktem Trinkwasser über Kabarettist*innen und Autor*innen bis hin zu Drachenbootfahren über alles, was sie so interessiert. Herzensthema bleibt natürlich die Politik. Im Wintersemester 19/20 leitete sie das Ressort Weltweit, seit Sommersemester 2020 das Ressort Heidelberg als Doppelspitze.