Rassismus, so wie wir ihn kennen, ist eine Erfindung der Neuzeit. Menschen wurden in Rassen kategorisiert und hierarchisiert, um die Herrschaft europäischer Mächte über andere Völker zu legitimieren. Die Wissenschaft sollte dafür die Grundlage bieten. Zu Anfang war das eine Herausforderung, denn es bestand ein Widerspruch zwischen dem ausbeuterischen Kolonialismus und dem gleichzeitig entwickelten Gedanken der Aufklärung. Einerseits sollten alle Menschen gleich sein und ein Recht auf Freiheit haben, während andererseits ganze Völker von diesem Recht ausgeschlossen wurden. Rassismus war das fehlende Bindeglied: eine Ideologie, um dieses Paradox zu begründen und sich jeder moralischen Verantwortung zu entziehen. Die kolonialen Herrschaftsstrukturen erschienen so als natürlicher Lauf der Dinge.
Die moderne Wissenschaft sollte die europäische Gesellschaft vom Rest der Welt abheben. Im 17. Jahrhundert rückte man ab von der Naturphilosophie, in der letztlich immer Gott die Begründung war. Nun lag der Fokus auf naturwissenschaftlich belegbaren Aussagen. Diese Vorgehensweise galt als höchste Form des rationalen Denkens und daher als Beweis für die überlegene Zivilisation der Europäer. Andere Völkergruppen seien von Emotionen geleitet und nicht von Vernunft. Damit wurden sie auf die Seite der Natur gestellt – also des Untersuchungsgegenstandes der Wissenschaft.
Paracelsus hatte schon 1520 gemutmaßt, dass die Völker der Welt keinen gemeinsamen Ursprung hätten. Der Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach führte diesen Gedanken im 18. Jahrhundert fort, indem er die Menschheit in fünf Rassen unterteilte. Wenig später untersuchte Samuel George Morton die Schädel von Menschen verschiedener Herkunft, um auf deren Intelligenz zu schließen. Lange hatte man ihm unterstellt, seine Daten gefälscht zu haben – ein Vorwurf, der heute fragwürdig erscheint. Nichtsdestoweniger war seine Arbeit aus heutiger Sicht äußerst waghalsig. Die sehr weitreichenden Schlüssen, die Morton aus seinen Schädelvermessungen zog, halten modernen wissenschaftlichen Analysen jedenfalls nicht stand.
Im Ergebnis waren die Thesen über Schädelgröße und Intelligenz nicht haltbar. Sie stießen damals jedoch auf offene Ohren, weil Morton sie zur Rechtfertigung einer sozialen Hierarchie der Völker nutzte. Afrikaner, so Morton, seien zu einem Dasein als „Diener und Sklaven“ verurteilt.
Damit aber nicht genug. Als britischstämmiger US-Amerikaner ordnete Morton auch andere Europäer seiner eigenen Gruppe unter. Die Europäer seien zwar die überlegene Rasse – unter ihnen seien die Engländer jedoch am weitesten entwickelt.
Kurioserweise führte sein Kollege Friedrich Tiedemann zur gleichen Zeit ganz ähnliche Messungen durch und berechnete ähnliche Kennzahlen – kam aber zu radikal verschiedenen Schlüssen. Während Morton seine Befunde mobilisierte, um für rassische Unterschiede und die Rechtfertigung der Sklaverei zu argumentieren, kam Tiedemann umgekehrt zu der Überzeugung, dass alle Menschen biologisch gleich seien. Die Sklaverei, nicht mangelnde Fähigkeiten, sei die wahre Wurzel von Afrikas Problemen.
Die Begründungen der angeblichen Minderbegabung von Schwarzen waren beinahe beliebig. Das zeigen auch Studien zum Suizid aus dem 19. Jahrhundert. Als die Suizidrate unter Afroamerikanern gering war, wurde dies damit erklärt, dass sie zu primitiv seien, um verrückt zu werden. Als die Suizidrate stieg, schrieb man ihnen eine Geistesschwäche zu.
Rassentheoretische Ideen waren also bestenfalls dubios, wenn nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Die rassistischen Überzeugungen der Wissenschaftler änderte das jedoch nicht. Ihrer Vorstellung nach waren Ergebnisse, die ihren Erwartungen zuwiderliefen, kein Grund, die Lehrmeinung zu ändern. Wissenschaftlicher Fortschritt war für sie der Versuch, andere Theorien so lange zu falsifizieren, bis die eigene bestätigt war.
Charles Darwin gab den Rassentheoretikern mit der Evolutionstheorie scheinbar neue Munition. So leitete der Soziologe Herbert Spencer aus einer kruden und irrigen Interpretation der Evolutionstheorie den „Sozialdarwinismus“ ab. Dieser behauptete ein survival of the fittest zwischen menschlichen Volksgruppen. Darwins Halbcousin, der bahnbrechende Statistiker Francis Galton, schlug mit seinem Konzept der Eugenik in dieselbe Kerbe. Galtons Vorstellung nach kann die Menschheit durch „Erbhygiene“ perfektioniert werden.
Seine Visionen hatten politischen Erfolg. Die Sterilisierung „minderwertiger“ Menschen wurde 1907 im US-Bundesstaat Indiana rechtlich zugelassen. Bis in die 1970er Jahre wurden arme Frauen in den USA zwangssterilisiert. Viele von ihnen waren Schwarz oder lateinamerikanisch. In NS-Deutschland hatte die Eugenik Hochkonjunktur. Die Nationalsozialisten sterilisierten gezielt Menschen mit vermeintlich minderwertigem Erbmaterial und brachten sie oft auch um.
Die Wissenschaft machte den Rassismus gesellschaftsfähig. Sie hat sich damit an Kolonialismus, Unterdrückung und Diskriminierung mitschuldig gemacht. Trotzdem kann sie ihrer historischen Verantwortung nachkommen, indem sie ihre Wirkungsgeschichte aufarbeitet.
Von Kaoutar Haddouti