Am 2. Juni erschienen die Ergebnisse zur ersten großen Studie über die häusliche Gewalt während des Lockdowns. Janina Steinert, Professorin an der Technischen Universität München, und Cara Ebert vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung haben die Untersuchung geleitet. Laut Steinert kann man aufgrund ihrer Studie davon ausgehen, dass 945.000 Frauen vom eigenen Partner zum Geschlechtsverkehr genötigt bis vergewaltigt wurden – in einem Monat.
Handelt es sich bei Ihrer Studie zum Thema „Häusliche Gewalt“ um eine Zufalls- oder eine Quotenstichprobe? (Eine Quotenstichprobe basiert auf einer bewussten Vorauswahl der Teilnehmer, in einer Zufallsstichprobe findet hingegen vorab keine Selektion der Befragten statt; Anm. d. Red.)
Bei unserer Online-Studie haben wir von über 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus dem Pool unseres Dienstleisters 3.800 Frauen im Alter von 18-65 Jahren nach Quotenprinzipien ausgewählt. Wir haben die Teilnehmerinnen befragt, inwiefern sie während des Lockdowns Opfer häuslicher Gewalt wurden. Die Quotierung folgte mit Blick auf Alter, Bildungsstand, Einkommen, Haushaltsgröße und Wohnort der Zusammensetzung der gesamtdeutschen Bevölkerung. Es handelt sich insofern um eine Quotenstichprobe und entspricht nicht dem Goldstandard einer Zufallsstichprobe. Aufgrund unserer Quotierung bildet unsere Studie aber gleichwohl präzise ab, in welchem Ausmaß Frauen unserer Altersgruppe in der deutschen Gesamtbevölkerung Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind.
Sie beschreiben in der Studie, dass von häuslicher Gewalt betroffene Frauen besonders wenige Hilfsangebote genutzt und über dieses Thema kommuniziert haben. Wie ist es ihnen denn hier gelungen, einen Zugang zu den jeweiligen Frauen zu finden?
Das war eine Online-Umfrage, mit der wir maximale Anonymität gewährleisten wollten. Dies ist gerade in solchen Befragungen wichtig, um die Dunkelziffer besonders niedrig zu halten. Daher gab es keinerlei Interaktion zwischen den Studienteilnehmerinnen und uns.
Wann haben Sie die Studie durchgeführt?
Die Umfrage lief vom 22. April bis zum 8. Mai 2020. Unsere Studie deckt damit quasi genau den Zeitraum des Lockdowns mit den stärksten Kontaktbeschränkungen in Deutschland ab. Ab Mai traten dann die ersten Lockerungen in Kraft. Noch während unserer Umfrage waren die Geschäfte in manchen Bundesländern schon wieder eine Woche geöffnet. Die Hauptöffnung erfolgte aber erst nach unserer Umfrage.
„3,1 Prozent berichten von körperlichen Auseinandersetzungen“
Welche Arten von häuslicher Gewalt untersucht Ihre Studie?
Wir betrachten in unserer Studie die emotionale, die körperliche und die sexuelle Form der häuslichen Gewalt.
Was verstehen Sie unter emotionaler Gewalt?
Mit der emotionalen Gewalt beschreiben wir hauptsächlich, ob man sich vom Partner bedroht fühlt. Zusätzlich erfragen wir noch die Überwachung der sozialen Kontakte oder ein Verbot, das Haus zu verlassen.
Wie haben Sie die körperliche und sexuelle Form betrachtet?
Bei der körperlichen Gewalt haben wir erforscht, inwiefern diese sich sowohl gegen Frauen als auch gegen Kinder gerichtet hat. Außerdem haben wir untersucht, inwiefern die Frauen unserer Altersgruppe während des Lockdowns von sexueller Gewalt betroffen waren. Die körperliche und sexuelle Gewalt haben wir aber jeweils nur mit einer Frage untersucht. In der Forschung wird da oft sehr ausführlich nach verschiedenen Abstufungen beider Formen gefragt. Aber das haben wir nicht gemacht, um die Befragten nicht übermäßig emotional zu belasten.
Was sind die zentralen Befunde der Studie?
3,1 Prozent der Teilnehmerinnen berichten von körperlichen Auseinandersetzungen mit dem Partner innerhalb des letzten Monats. In 6,5 Prozent der befragten Haushalte kam es zur körperlichen Bestrafung eines Kindes, ebenfalls innerhalb des letzten Monats. Beispiele hierfür sind eine Ohrfeige, ein Stoß oder ein Tritt. Wir haben bei der körperlichen Gewalt gegenüber Kindern nicht erfasst, ob diese von der Mutter oder dem Vater ausging. Diese Frage bleibt somit offen. Mit Blick auf die emotionale Gewalt fühlen sich 3,8 Prozent der Frauen bedroht. 2,2 Prozent durften das Haus ohne die Erlaubnis des Partners nicht verlassen. 4,6 Prozent der Frauen hatten Angst davor, dass der Partner die Kontakte mit anderen Personen reguliert oder überwacht.
Inwiefern kann man durch Ihre Studie einen Anstieg der häuslichen Gewalt durch den Lockdown feststellen?
An sich gar nicht. Das Problem ist, dass die meisten Studien zu häuslicher Gewalt nach Erfahrungen innerhalb des letzten Jahres oder des gesamten Lebens fragen. Wir haben spezifisch nur auf den letzten Monat geschaut. Der Referenzeitraum ist also ein ganz anderer. Dies macht es schwer, hier Vergleiche zu ziehen.
Ist etwa bei einer Studie, die ein ganzes Jahr betrachtet, das Grundproblem, dass man die Werte einer solchen Studie nicht durch zwölf teilen kann, um den Wert eines Monats zu ermitteln, weil es Unterschiede zwischen den Zeiträumen geben könnte?
Ganz richtig, genau! Und es gibt auf der eine Seite Frauen, die eher einmalig von Gewalt betroffen sind und bei denen es eher ein singuläres Phänomen ist. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Frauen, die Gewalt systematisch jeden Tag oder jede Woche erleiden. Dies können wir so auch nicht auseinanderhalten.
945.000 Frauen als Opfer sexueller Gewalt durch den eigenen Partner?
Wie lautet das Ergebnis im Hinblick auf sexuelle Gewalt?
3,6 Prozent der befragten Frauen wurden innerhalb eines Monats zum Geschlechtsverkehr genötigt.
In der Pressemitteilung der Technischen Universität München zu Ihrer Studie ist hier von Vergewaltigungen die Rede. Wie ist hier der genaue Zusammenhang?
Wir decken mit unserer Frage wahrscheinlich ein Spektrum an verschiedenen Schwereformen der sexuellen Gewalt ab von der Nötigung zum Geschlechtsverkehr bis hin zu Vergewaltigungen. Wir haben die Frage bewusst niederschwelliger formuliert, um zu entstigmatisieren.
Wie haben Sie die besonders stigmatisierte sexuelle Gewalt in Ihrer Studie abgefragt?
Hier haben wir ein Listenexperiment durchgeführt. Das Listenexperiment ist ein indirekte Fragetechnik. Man wendet es in verschiedenen Disziplinen an. Mit dieser misst man stigmatisiertes Verhalten oder stigmatisierte Einstellungen und Meinungen. Wenn man zum Beispiel in der Politikwissenschaft eine Studie zum Thema Rassismus oder Extremismus durchführt, kommt diese Methode häufig zur Anwendung.
Wie funktionierte das Listenexperiment in Ihrer Studie?
Wir haben einen statistischen Häufigkeitsvergleich durchgeführt. Wir haben unsere befragten Frauen hierbei zufällig in zwei Gruppen eingeteilt. Die beiden Gruppen erhielten verschiedene Frageblöcke. Die erste Gruppe bekam eine Liste mit vier Aussagen. Solche Aussagen können zum Beispiel eine sein wie „Ich war schon einmal in Italien“. Die Teilnehmerinnen müssen dann nur angeben, wie viele der Aussagen in ihrem Fall zustimmen, aber nicht welche. Eine Antwortmöglichkeit wäre demnach, dass zwei von vier Aussagen zutreffen. Der anderen Gruppe, in dem Fall die sogenannte Versuchsgruppe, haben wir dieselben vier Aussagen gegeben. Die Liste ihrer Aussagen haben wir aber um eine fünfte ergänzt. Diese besagte: „Ich wurde innerhalb des letzten Monats von meinem Partner zum Geschlechtsverkehr genötigt“. Auch in dieser Gruppe musste jede Teilnehmerin lediglich angeben, wie viele Aussagen auf sie zutreffen, also etwa vier von fünf Aussagen.
Wie bestimmt man nun den Prozentsatz der fünften, zusätzlichen Aussage in der Versuchsgruppe?
Am Ende betrachten wir in beiden Gruppen, wie vielen Aussagen im Durchschnitt jede Teilnehmerin zugestimmt hat. Als Wert erhalten wir hier zum Beispiel bei der ersten Gruppe, dass im Durchschnitt jede Teilnehmerin 2,5 Aussagen zugestimmt hat. Liegt demgegenüber die durchschnittliche Anzahl an zutreffenden Aussagen in der zweiten Gruppe (der Versuchsgruppe) um 0,5 über der durchschnittlichen Anzahl in der Gruppe mit dem kürzeren Frageblock, hätten im Durchschnitt somit 50 Prozent der Frauen der weiteren Aussage zugestimmt. Dies funktioniert aber nur, wenn die Stichprobe groß genug ist.
Was ist der Vorteil dieser indirekten Methode?
Wir betrachten hier nur die Mittelwerte der zutreffenden Aussagen. Keiner unserer Teilnehmerinnen hat spezifisch angegeben, welche der einzelnen Aussagen auf sie zutrafen oder nicht. Individuelle Rückschlüsse über die Gewalterfahrungen einer einzelnen Frau sind in einem Listenexperiment nicht möglich. Daher wird angenommen, dass dieses Verfahren Anonymität noch zusätzlich erhöht und die soziale Erwünschtheit einer Antwort reduziert. Insofern geht man davon aus, dass das Dunkelfeld von Gewalt hier besser abgebildet werden kann.
Kann man das irgendwie wissenschaftlich beschreiben, was es für die einzelne Frau bedeutet, wenn ihr eigener Partner sie zum Geschlechtsverkehr nötigt oder gar vergewaltigt?
Sie meinen die Folgen, die daraus entstehen?
Ja, der Partner ist in der Regel die engste Vertrauensperson. Der Täter ist somit weiterhin im unmittelbaren Umfeld. Wie verändert dies aus wissenschaftlicher Perspektive die Lebenskonstellation für die jeweilige Frau?
Die Konsequenzen sind natürlich psychische Probleme wie Depressionen, Borderline-Erkrankungen bis hin Suizidalität. Konsequenzen können natürlich in vielen Kontexten ebenfalls körperliche Folgen sein. Gerade in Kontexten von einer erhöhten HIV-Prävalenz haben wir dann ein erhöhtes Risiko einer HIV-Infektion als Konsequenz von sexueller Gewalt in Partnerschaften. Es gibt auch viele Faktoren vor einer Beziehung, die teilweise mit erhöhtem Risiko verbunden sind, in einer Beziehung Opfer von sexueller Gewalt zu werden. Man kann zum Beispiel beobachten: Frauen, die schon ihr Vater sexuell missbraucht hat, haben ein höheres Risiko ebenfalls in einer Partnerschaftsbeziehung misshandelt zu werden. Oft rutschen auch Frauen von einer von Gewalt geprägten Partnerschaftsbeziehung in die nächste.
In Deutschland gibt es geschätzt 26,25 Millionen Frauen in der Altersgruppe von 18-65 Jahren. 3,6 Prozent entsprechen hier also 945.000 Frauen. Heißt dies also, gemäß Ihrer Studie wurden höchstwahrscheinlich 945.000 Frauen während des Lockdowns innerhalb eines Monats zum Geschlechtsverkehr genötigt bis vergewaltigt?
Ja, von dieser absoluten Zahl kann man gemäß unserer Studie ausgehen.
Mir ist die Studie Violence Against Women der Europäischen Agentur für Grundrechte aus dem Jahr 2014 aufgefallen. Hier gab nur ein Prozent der Frauen in Deutschland an, dass sie innerhalb des letzten Jahres durch Ihren Partner Opfer sexueller Gewalt wurden. Bedeuten demgegenüber die 3,6 Prozent in einem Monat 2020 trotz nicht vergleichbarer Zeiträume einen sehr hohen, aber bloß nicht bezifferbaren Anstieg?
Nein, wir nehmen davon Abstand, diese Aussage zu treffen. Sie ist nicht wissenschaftlich fundiert. Ein weiterer Faktor, der diese Differenz erklären kann, ist die gewählte Frageform. Wir gehen durch unsere indirekte Frageform davon aus, dass wir eine größere Dunkelziffer abbilden.
Betrachten wir nun die körperliche Gewalt gegenüber Kindern. Waren alle Kinder gleichermaßen hiervon betroffen?
Nein, insbesondere Kinder unter zehn Jahren waren häufiger von körperlicher Gewalt betroffen. In diesen Haushalten trat auch innerhalb der Partnerschaft körperliche Gewalt häufiger auf.
Wie lässt sich dies beziffern?
Kinder selbst wurden in Haushalten mit Kindern unter zehn Jahren zu 9,2 Prozent Opfer körperlicher Gewalt, in Haushalten ohne jüngere Kinder beträgt dieser Wert 1,5 Prozent. In Haushalten mit jungen Kindern hatten 6,6 Prozent unserer Teilnehmerinnen Angst vor dem Partner gegenüber 2,9 Prozent in Haushalten ohne junge Kinder. 6,3 Prozent der Befragten in Haushalten mit jungen Kindern gaben an, dass es im Lockdown zu körperlichen Auseinandersetzungen mit dem Partner gekommen ist. In Haushalten ohne Kinder beträgt dieser Wert hingegen 2 Prozent.
„Bei finanziellen Sorgen 8,4 Prozent von körperlichen Auseinandersetzungen betroffen“
Welche weiteren Faktoren haben Sie für häusliche Gewalt während des Lockdowns ermitteln können?
Unser Ziel war, eben spezifisch Corona-bedingte Faktoren abzubilden. Deswegen haben wir die Frauen unserer Altersgruppe beispielsweise nach finanziellen Sorgen und tatsächlichen finanziellen Folgen der Covidkrise befragt.
Was genau meinen Sie mit finanziellen Sorgen?
Zu nennen sind hierbei die Angst vor einer Rezession oder dem Verlust des Arbeitsplatzes. Genauso wie die finanziellen Sorgen war die psychische Gesundheit beider Partner ein Risikofaktor. Dazu zählt, dass einer der beiden Partner oder auch beide Partner von Depression und Angst berichten.
Konnten Sie es in Ihrer Studie nur grundsätzlich feststellen oder war dies auch messbar?
Doch, wir können das beziffern. Wir müssen da aber vorsichtig sein. Es handelt sich bei unserer Studie um eine Querschnittsstudie.
Gut, was bedeutet dies konkret zum Beispiel für den Faktor psychische Gesundheit?
Kausalschlüsse sind hier nicht ohne Weiteres möglich. Wir wissen zum Beispiel nicht, ob die psychische Gesundheit aufgrund von Corona beeinträchtigt wurde oder ob dies schon vorher der Fall war. Das ist eine Limitation. Wir haben jedoch versucht, hier einen Zusammenhang zur Coronakrise herzustellen. Wir haben etwa gefragt: Lösen Gedanken an die Pandemie Panikattacken bei Ihnen aus? Weisen die Frau oder ihr Partner eine schlechte psychische Gesundheit vor, dann sind Kinder zu 14,3 Prozent von körperlicher Gewalt betroffen. Sind beide Partner bei guter psychischer Gesundheit, betrifft dies nur 4,4 Prozent der Kinder. Frauen waren im Fall von Depressionen und Angst zu 9,7 Prozent von körperlicher Gewalt betroffen. In Haushalten mit guter psychischer Gesundheit reden wir von einer Häufigkeit von 1,4 Prozent.
Wie haben sich die finanziellen Sorgen in Zahlen ausgewirkt?
Hier zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: Bei finanziellen Sorgen waren 8,4 Prozent der Frauen von körperlichen Auseinandersetzungen betroffen, ohne finanzielle Sorgen betrug dieser Prozentsatz 1,8 Prozent.
Haben Sie denn Unterschiede festgestellt zwischen Frauen, die sich während des Lockdowns zusätzlich in häuslicher Quarantäne befanden und denen, die nur von den allgemeinen Beschränkungen betroffen waren?
Das ist ein guter Hinweis. Hier können wir in gewisser Weise doch den Bezug zur Pandemie herstellen. Die Häufigkeit von häuslicher Gewalt war deutlich höher, wenn die Studienteilnehmerinnen unter Heim- oder Selbstquarantäne standen. In 7,5 Prozent dieser Haushalte kam es während des Lockdowns zu körperlichen Auseinandersetzungen. Ohne Quarantäne lag die Häufigkeit bei 2,2 Prozent. Gegenüber Kindern war die körperliche Gewalt mit einer Häufigkeit von 10,5 Prozent im Falle einer Quarantäne doppelt so hoch.
„Frauenhäuser müssen systemrelevant bleiben!“
Aus Ihrer Studie geht hervor, dass nur sehr wenige Frauen die verschiedenen Hilfsangebote wahrgenommen haben. Welche Empfehlungen geben sie daher für einen potentiellen zweiten Lockdown?
Viele Frauen waren während des Lockdowns von verschiedenen Formen der häuslichen Gewalt betroffen. Auch bei einem zweiten Lockdown könnten daher viele Frauen besonders gefährdet sein. Daher ist eine wichtige Grundempfehlung: Frauenhäuser müssen in diesem Fall systemrelevant bleiben! Diese müssen ebenfalls ausreichend finanziert sein und über genügend Personal verfügen, um entsprechend reagieren zu können. Telefonische Angebote wie die Telefonseelsorge oder das Hilfetelefon haben nur wenige betroffene Frauen benutzt. Das kann daran liegen, dass es eben manchen Frauen nicht möglich war, zuhause ein entsprechendes Telefonat zu führen, wenn der potenzielle Täter anwesend ist. Daher sollte das Onlineangebot stark ausgebaut werden. Zu nennen sind hier etwa Angebote per App, SMS, E-Mail.
Hatten denn die Frauen eine ausreichende Kenntnis der Hilfsangebote?
Nein, genau das war ein weiteres Problem. Vielen Frauen wussten zum Beispiel gar nicht, dass sie mit dem Codewort Maske 19 in Apotheken hätten Hilfen erhalten können. Diese Angebote müssten daher auch besser beworben werden, vielleicht in Supermärkten oder auch per Online-Anzeigen in den sozialen Netzwerken.
Eine Ihrer Empfehlungen lautet, dass es auch eine Notbetreuung für Kinder geben sollte, wenn die Eltern sich überfordert fühlen. Wie verhält es sich dann aber zum Beispiel mit Eltern einer einkommensstarken Familie, die sich subjektiv überfordert fühlen, aber von außen betrachtet mit der Situation zurechtkommen müssten?
Unsere Stichprobe war zu klein, um statistisch relevante Aussagen treffen zu können, inwiefern eher einkommensstärkere oder -schwächere Familien hiervon betroffen waren. Aber wir sehen, dass alle Einkommens- und Bildungsschichten in gewisser Weise betroffen waren. Es ist also definitiv kein Phänomen, das wir nur in den sozial benachteiligten Schichten beobachtet haben. Mit Blick auf die hohe Häufigkeit von Gewalt in Haushalten mit jungen Kindern haben wir uns das auch so erklärt, dass eben viele Eltern natürlich auch berufstätig sind. Das heißt in viele Fällen waren Eltern durch die Kitaschließungen einer extremen Doppelbelastung ausgesetzt waren. Sie mussten schließlich gleichzeitig im Homeoffice arbeiten und ihre Kinder betreuen. Dies kann vielleicht das erhöhte Konfliktpotenzial erklären.
Bei einem erneuten Lockdown dürfte es dann sehr viele Eltern geben, die sich erneut von einer solchen Doppelbelastung überfordert fühlen. Ist aus also Ihrer Sicht daher eine Kindernotbetreuung in einer ganz anderen Größenordnung erforderlich?
Genau! Die Kindernotbetreuung darf gemäß unserer Studie eben nicht nur Eltern systemrelevanter Berufe offenstehen. Es muss ein Angebot für alle Eltern geben, die sich subjektiv akut überfordert fühlen. Nur dieser Eindruck der Eltern ist entscheidend, damit es auch niederschwellig zu nutzen ist. Hierfür sollte es auch keine weiteren Kriterien geben, die von externer Seite überprüft werden. Dabei spielt auch die Entstigmatisierung der Nutzung dieser Angebote eine ganz wichtige Rolle.
Wie geht Ihre Forschungsarbeit mit Blick auf häusliche Gewalt während des Lockdowns weiter?
Wir sammeln jetzt deutschlandweit Daten von Frauenhäusern, den ganzen Telefonhotlines und Anlaufstellen aus den Jahren 2019 und 2020. Wir möchten damit saisonale Änderungen in den Anrufer- oder Hilfegesuchszahlen abbilden können. Dann ermitteln wir, ob im März, April und Mai 2020 die Hilfsgesuche deutlich über dem Durchschnitt lagen. Dann können wir eher Aussagen über diese Anstiegsdimension während des Lockdowns treffen. Diese Erhebung schließt zwar einerseits die weiblichen Opfer häuslicher Gewalt während des Lockdowns nicht mit ein, die kein Hilfsangebot wahrgenommen haben. Insofern haben wir dann eine sehr hohe Dunkelziffer. Aber dafür können wir andererseits den zeitlichen Trend beobachten. Wir können dann auch über die Bundesländer hinweg Varianzen feststellen, weil es in manchen Bundesländern rigidere Kontaktbeschränkungen gab als in anderen.
Wann rechnen Sie hierzu mit Ergebnissen?
Wir kontaktieren jetzt die ganzen Frauenhäuser, das sind deutschlandweit über 1000. Wir rechnen frühestens bis Ende 2020 mit einem Manuskript.
Das Gespräch führten Emanuel Farag und Mareike Gaide.
Emanuel Farag hat sein Philosophiestudium unterbrochen. Für den ruprecht schrieb er bereits von 2011-2013 in allen Ressorts. 2012 leitete er das Ressort Hochschule. Seit 2020 publiziert er wieder in seiner Freizeit für den ruprecht und arbeitet ansonsten hauptberuflich im Geschäftskunden-Vertrieb.