Seit dem 9. August 2020 gehen Hunderttausende Menschen in Belarus auf die Straße. Sie protestieren gegen Wahlfälschung und die Gewalt des Regimes. Nun hat sich Aljaksandr Lukašenka heimlich in sein Amt einführen lassen. Weder die belarussische Bevölkerung noch die EU erkennen ihn als legitimen Herrscher an. Ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht, sagt Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa, im Gespräch mit Martina Langhals.
Waren die Entwicklungen seit der Wahl am 9. August 2020 vorhersehbar?
Nein. Alle sind von diesem Aufbruch überrascht. Aber die Lage in Belarus, wo Diktator Lukašenka seit 26 Jahren regiert, hat sich verändert. Zuerst leugnete Lukašenka Corona. Zur Vorbeugung empfahl er Wodka und Traktorfahren. Das war zynisch und stieß die Menschen vor den Kopf. Dann haben in den vergangenen Jahren zehntausende Belarussen in der EU studiert und gearbeitet, wo sie ein anderes Leben kennenlernten. Diese Leute haben eine aktive Diaspora gebildet. Schließlich muss man die chauvinistische Herablassung erwähnen, mit der Lukašenka dem oppositionellen Frauen-Trio begegnete, allen voran seiner Gegenkandidatin Svjatlana Cichanoŭskaja. All das hat viele Leute derart empört, dass sie ihre Angst überwanden und auf die Straße gingen. Aber solche überraschenden Protestexplosionen kommen in autoritären Regimen immer wieder vor. Denken wir an die Proteste in Russland 2010 nach den Präsidentschaftswahlen…
Oder an die Majdan-Bewegung 2014 in der Ukraine…
Absolut. Damals war die überraschende Weigerung von Präsident Viktor Janukovič, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, der Anlass für die Proteste. In Belarus sind es die plump gefälschten Wahlen. Jeweils haben sich vermeintlich passive Untertanen gewehrt, gehen auf die Straße und fordern ihre Rechte als Bürger ein. Und jeweils sind die sozialen Medien zur Mobilisierung der Bevölkerung sehr wichtig. In Belarus spielt Nexta auf „Telegram“ eine zentrale Rolle, um dem repressiven Staat die Stirn zu bieten („Telegram“-Kanal des oppositionellen Bloggers Stepan Swetlow mit ca. 2 Mio. Mitgliedern, Anm. d. Redaktion).
Was ergibt sich aus der überraschenden Situation in Belarus für die Osteuropa-Forschung?
Wieder einmal stellen wir fest, dass es in Deutschland an den Universitäten praktisch keine Expertise über Belarus gibt. Wir wissen grundsätzlich auch wenig darüber, was im Inneren von autoritären Regimen passiert. Das betrifft vor allem die Gewaltapparate, die in einem Konflikt wie diesem letztlich die Machtfrage entscheiden.
Wie geht die Zeitschrift „Osteuropa“ mit diesen blinden Flecken um?
Wir müssen keine tagesaktuelle Berichterstattung leisten. Wir versuchen, die Strukturen und die systematischen Zusammenhänge zu erklären. Im Falle Belarus haben wir einen Zwischenweg gewählt. Wir analysieren die Lage online in unserem „Fokus Belarus“. Damit sind wir aktueller als andere Fachzeitschriften, aber die Halbwertszeit dieser Beiträge ist länger als die aus der Tagespresse. Außerdem können wir auf unser Netzwerk zurückgreifen, das wir seit Jahren pflegen, etwa auf den bedeutenden russischen Soziologen Lev Gudkov, den Direktor des „Levada-Zentrums“, des wichtigsten Meinungsforschungsinstituts Russlands. Er erklärt uns zum Beispiel, wie Russlands Gesellschaft und politische Elite auf die Lage in Belarus reagieren. Einen solch substantiellen Beitrag finden Sie im Fernsehen oder in der Tagespresse kaum. Und um den blinden Fleck zu füllen, suchen wir natürlich auch Autorinnen und Autoren aus Belarus. Das gehört zum Prinzip unserer Zeitschrift: Wir reden nicht nur über Länder, sondern mit Leuten aus den Ländern. Das ist bei Diktaturen allerdings leichter gesagt als getan. Einige unserer Autoren haben Angst sich zu äußern und müssen Konsequenzen fürchten, wenn sie es tun. Das ist anders als unser Publizieren in der Komfortzone. Parallel zu den Interviews stellen wir ein großes Belarus-Heft auf die Beine. Darin behandeln wir relevante Fragen. Wie funktioniert Herrschaft in einer Diktatur? Wer ist dieser Lukašenka? Warum erodiert seine Macht ausgerechnet jetzt? Wovon lebt dieses Land wirtschaftlich? Wie steht es um die Medien, die Literatur, die Kultur? Das machen wir wie bei uns üblich: interdisziplinär.
Seit fast 20 Jahren leiten Sie Osteuropa. Sie haben einige Aufbrüche und Umbrüche in Osteuropa erlebt. Wie geht das in Belarus aus?
Die Freiheit bricht sich Bahn! Belarus wird die letzte Diktatur in Europa gewesen sein. Meine Generation hat erlebt, dass das Unmögliche möglich ist: der Zerfall der Sowjetunion, der Mauerfall, die deutsche Einigung. Das galt alles als völlig undenkbar. Noch wenige Wochen vorher hätte sich das niemand vorstellen können. Denkbar ist nun, dass sich das Lukašenka-Regime noch einmal mit Gewalt durchsetzt. Aber die Gesellschaft hat sich fundamental verändert. Sie ist zum Subjekt der Politik geworden. Hannah Arendt hat auf den kategorischen Unterschied von Macht und Gewalt hingewiesen. Macht kommt nicht aus den Gewehrläufen oder den Schlagstöcken. Macht beruht auf dem gemeinsamen Handeln der Vielen, sie bedarf der Legitimität. Wir sind gerade Zeugen, wie in Belarus das politische Subjekt entsteht. Die Gesellschaft verlangt Freiheit zur Selbstverantwortung. Das ist der Epilog der Lukašenka-Diktatur. Und in Belarus wird gerade das Drehbuch für die Entwicklung in Russland verfasst. Nicht sofort, aber später. Deshalb wird Russlands Präsident Putin alles daran setzen, um zu verhindern, dass Lukašenka fällt. Doch die Zeit arbeitet gegen beide.
Das Gespräch führte Martina Langhals.
Martina Langhals
Xenia Miller studiert Politikwissenschaften und Soziologie und schreibt seit Sommersemester 2018 für den ruprecht. Sie schreibt von verkalktem Trinkwasser über Kabarettist*innen und Autor*innen bis hin zu Drachenbootfahren über alles, was sie so interessiert. Herzensthema bleibt natürlich die Politik. Im Wintersemester 19/20 leitete sie das Ressort Weltweit, seit Sommersemester 2020 das Ressort Heidelberg als Doppelspitze.