Im ersten Lockdown gab es viel häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder – auch, wenn der Vergleich zu anderen Zeiträumen fehlt. So kann man in Deutschland laut einer Studie von Janina Steinert (TU München) von 945.000 Frauen ausgehen, die während des Lockdowns in einem Monat von ihrem eigenen Partner zum Geschlechtsverkehr genötigt oder vergewaltigt wurden. War diese Entwicklung so zu erwarten? Unter anderem hierzu haben wir die demokratischen Parteien im Bundestag und das Bundesfamilienministerium befragt.
Für Ricarda Lang, stellvertretende Bundesvorsitzende und frauenpolitische Sprecherin von Bündnis90/Die Grünen sei diese Entwicklung absehbar gewesen – angesichts von Frust, Existenznot und Enge. „Von Seiten der Bundesregierung wurde zwar schnell Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt, die konkrete Hilfe für Frauenhäuser, ließ aber zu lange auf sich warten, da Bund und Länder sich, wie bei diesem Thema leider viel zu oft, gegenseitig die Verantwortung zuschoben.“
„Ein Anstieg häuslicher Gewalt war zu befürchten, dieses Ausmaß war nicht zu erwarten“, erklärt ein CDU-Sprecher auf Anfrage und verweist darauf, dass etwa das soziale Umfeld als Schutzfaktor im Lockdown weggefallen sei. Aus Sicht der CDU habe es keine andere Wahl gegeben, als die Kontakte zwischen den Menschen rigoros zu verringern. „Die Hilfetelefone (wie beispielsweise „Sexueller Missbrauch“, „Gewalt gegen Frauen“, „Nummer gegen Kummer“) waren trotz Krise uneingeschränkt funktionsfähig, Schutzplätze in Frauenhäusern durch die Anmietung von Hotelzimmern und Ferienwohnungen aufgestockt und die Notbetreuung für Kinder wurde ausgeweitet“, so der Sprecher über die Maßnahmen gegen häusliche Gewalt während des Lockdowns.
Ein Sprecher der CSU erklärt, die bayerische Staatsregierung habe frühzeitig Maßnahmen ergriffen, wie die neue Webseite www.bayern-gegen-gewalt.de, um betroffene Menschen auf die entsprechenden Hilfsangebote aufmerksam zu machen. Laut des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales besteht diese Webseite bereits seit Mitte April – das war mitten im Lockdown. „Zum Ausbau der Online-Beratungen (technisch und personell) wurden dem Hilfesystem zusätzlich rund 900.000 Euro zur Verfügung gestellt“, so der Sprecher der CSU weiter.
Gülistan Yüksel, Fachpolitikerin der SPD-Bundestagsfraktion, hebt hervor, dass man gemeinsam mit dem Familienministerium die großen Einzelhandelsketten um Hilfe bei der Initiative „Zuhause nicht sicher?“ gebeten habe, um Opfer häuslicher Gewalt auf Hilfsangebote aufmerksam zu machen. Aufgrund der sehr positiven Resonanz werde dies nun laut Yüksel auf verschiedenste Art und Weise beworben. Zusätzlich biete das Hilfetelefon „Gegen Gewalt an Frauen“ telefonisch und online 24 Stunden täglich in 17 verschiedenen Sprache eine weitere Unterstützung für Opfer häuslicher Gewalt.
Für Nicole Bauer, frauenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, wurde das Thema häusliche Gewalt beim Lockdown nicht ausreichend beachtet. Die Erfahrungen aus stärker betroffenen Ländern wie China und Frankreich hätten hier besser sensibilisieren sollen. „Grundsätzlich brauchen wir bei allen politischen Maßnahmen, die den massiven persönlichen Einschränkungen eines Lockdowns bzw. einer Kontaktsperre gleichkommen, eine viel bessere Abwägung und Einbeziehung möglicher Folgen. Die Zusammensetzung des Expertenrates der Leopoldina wurde in diesem Zusammenhang vielfach diskutiert und kritisiert“, so Bauer.
Ausnahmezustand in deutschen Frauenhäusern – oder Normalität?
Cornelia Möhring, frauenpolitische Sprecherin und stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, teilt die Einschätzung von UN Women Deutschland, dass gemäß der Istanbul-Konvention mehr als 14.000 Plätze in deutschen Frauenhäusern fehlen. Das Hilfssystem sei schon vor der Covid-Krise überlastet und völlig unterfinanziert gewesen. Die Anmietung von Hotels während des Lockdowns, um das Platzangebot zu erhöhen, sei ein richtiger Schritt gewesen, aber zeitlich sehr begrenzt. Da viele Frauen das Frauenhaus in Begleitung Ihrer Kinder aufsuchen würden, müsse man laut Möhring entsprechend mehr Plätze bereitstellen. „Die Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen waren Tropfen auf dem heißen Stein“, befindet Möhring insgesamt.
Nicole Bauer (FDP) teilt ebenso die Einschätzung, dass in den deutschen Frauenhäusern mehr als 14.000 Plätze fehlen. Die Krise habe das bestehende Problem häusliche Gewalt lediglich verschärft, es fehle zudem an einer bundesweit einheitlichen Finanzierung „Die Bundesregierung muss hier endlich ihrem Schutzauftrag nachkommen und gemeinsam mit den Ländern schnell eine Lösung finden.“ Aktuell gebe es in manchen Landkreisen immer noch keine Frauenhäuser. „Das darf nicht sein“, kritisiert Bauer.
Auch Ricarda Lang von den Grünen macht substanzielle, gravierende Defizite aus. Der Ausnahmezustand sei für viele Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern seit mehreren Jahren Normalität. Deutschland sei weit davon entfernt, internationale Zusagen einzuhalten. „In Anbetracht dieser Tatsache ist es vollkommen unverantwortlich, dass es von Seiten der Bundesregierung immer noch keinen Vorschlag für eine gemeinsame Finanzierung von Bund und Ländern gibt.“
Plätze in Frauenhäusern: die Rolle des Familienministeriums
Eine Sprecherin des Bundesfamilienministeriums betont, dass Deutschland mit rund 350 Frauenhäusern und 600 Frauenberatungsstellen ein differenziertes Hilfssystem besitze. Dieses sei im internationalen Vergleich gut ausgebaut. Es gebe keine belastbaren Statistiken oder eine Hochrechnung, wie viele Plätze in Deutschland fehlen. Auch gebe es keine bundesrechtlich verbindlichen Vorgaben wie einen Bevölkerungsschlüssel. Es sei jedoch bekannt, dass es zum einen immer noch wenige Schutz- und Beratungseinrichtungen gebe und dass die Versorgungsdichte und Auslastung sich von Gebiet zu Gebiet unterscheiden.
Das Ministerium verweist auf eine rechtlich nicht verbindliche Empfehlung der Istanbul-Konvention aus dem Jahr 2008. Demnach soll der Staat einen Platz für eine Familie pro 10.000 Einwohner gewährleisten. Die Anzahl der Schutzunterkünfte solle sich jedoch nach dem konkreten Bedarf richten.
Die Istanbul-Konvention trat in Deutschland erst 2018 in Kraft. Der deutsche Bedarf an Frauenhausplätzen ist laut Ministerium nicht klar. In den letzten zwölf Jahren hat das Familienministerium den Bedarf also nicht selbst ermittelt.
Das Bundesland Bayern verfährt hier anders. Der CSU-Sprecher verweist auf eine Studie des Instituts für empirische Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Die Untersuchung empfiehlt eine schrittweise Aufstockung der Frauenhausplätze um circa 35 Prozent und eine Ansiedelung nach regionalem Bedarf in Bayern.
Bei 6500 Plätzen bundesweit und einem Mehrbedarf von über 14.000 Plätzen gemäß der Istanbul-Konvention wären demgegenüber mehr als 200 Prozent Aufstockung notwendig. Daher wäre eine bundesweit fundierte Bedarfsermittlung wichtig gewesen.
Am Runden Tisch von Bund, Ländern und Kommunen „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“, den Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) im September 2018 eingerichtet hat, wird laut der Sprecherin des Ministeriums über eine bundesgesetzliche Regelung zur Finanzierung des Hilfesystems beraten. Ziel sei es, dass jede gewaltbetroffene Frau mit ihren Kindern zeitnah und möglichst ohne bürokratische Hürden Schutz und gute fachliche Beratung zur Überwindung der Gewalt erhalte.
Für Gülistan Yüksel (SPD) ist die Lage in ländlichen Regionen „besonders angespannt“. Yüksel verweist auf ein erstmaliges Investitionsprogramm des Bundes, das aus dem Runden Tisch des Familienministeriums Ende Oktober 2019 vor der Covid-Krise hervorgegangen ist. Hier werden ab 2020 über vier Jahre hinweg insgesamt 120 Millionen Euro investiert. „Dabei stehen der barrierefreie Ausbau, neue räumliche Kapazitäten sowie innovative Wohnformen im Mittelpunkt. Diese Form der Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen hat es in Deutschland bisher nicht gegeben“, so Yüksel.
Nicole Bauer fordert Ergebnisse des Runden Tisches zum Ausbau sowie zur einheitlichen und nachhaltigen Finanzierung der Frauenhäuser. „Der Bund hat sich zur Umsetzung der Istanbul-Konvention verpflichtet, die Ländern sind für die Umsetzung zuständig. Somit liegt die Verantwortung auf beiden Ebenen und darf nicht auf den jeweils anderen abgeschoben werden.“
Von Emanuel Farag und Mareike Gaide
Emanuel Farag hat sein Philosophiestudium unterbrochen. Für den ruprecht schrieb er bereits von 2011-2013 in allen Ressorts. 2012 leitete er das Ressort Hochschule. Seit 2020 publiziert er wieder in seiner Freizeit für den ruprecht und arbeitet ansonsten hauptberuflich im Geschäftskunden-Vertrieb.