Die ehemalige Kaiserstadt Kyoto ist einer der Touristenmagnete Japans. Neben den klassischen Sightseeing-Spots befindet sich dort auch eine der ältesten Universitäten des Landes. An der Universität Kyoto – von japanischen Studierenden oft abgekürzt Kyôdai genannt – wird seit 1897 unterrichtet. Bereits seit mehr als 100 Jahren ihres Bestehens wohnen Studierende im Yoshida Ryô, dem Yoshida Studierendenwohnheim. Es ist die älteste Holzkonstruktion, die auf dem Campus bis heute erhalten geblieben ist. Seit Jahrzehnten steht das Gebäude unter Selbstverwaltung durch die BewohnerInnen. Neben der Verwaltungsarbeit veranstalten sie auch Konzerte, gemeinsames Kochen und andere Events, zu denen auch Außenstehende eingeladen sind.
Doch die Zukunft des Wohnheims ist ungewiss. Die Universität forderte 2017 alle BewohnerInnen auf, das Gebäude zu räumen. Als einige sich weigerten, folgte 2019 ein Gerichtsverfahren gegen zwanzig der ca. 100 verbleibenden Studierenden. Für die Universität gelten sie als Besetzer.
Seit dem Jahr 1913 scheint sich im Wohnheim optisch wenig verändert zu haben. Über einen weitläufigen Innenhof gelangt man zum Haupteingang, dessen Tür meist offensteht. Schon im Eingangsbereich wird klar, dass es sich hierbei um kein gewöhnliches Studierendenwohnheim handelt, denn im Inneren wird das Alter des Baus erst richtig deutlich.
Die letzten Renovierungen sind lange her. Es gibt weder Heizung noch Klimaanlage. Ein Student behilft sich mit einem elektronischen Heizofen und einer beheizbaren Matratze. Lange Gänge mit Böden und Wänden aus Holz führen zu den einzelnen Schlafzimmern. Andere Räume werden von allen genutzt und auch Besucher sind willkommen, solange sie die Privatsphäre der Bewohner respektieren. Auf den Gängen stehen teilweise Küchenutensilien und Bücher, vereinzelt sieht man Fenster ohne Glas. Vieles ist schmutzig, jahrzehntealte Poster an den Wänden verstärken das Gefühl beim Betreten des Gebäudes versehentlich aus der Zeit gefallen zu sein.
In dem vermeintlichen Chaos wird von der Selbstverwaltung viel Wert auf gegenseitige Rücksichtnahme gelegt. Grundsätzlich gilt, dass jeder sich frei entfalten darf, solange er keinen anderen stört. Manche machen Musik, ein Student züchtet im Garten Fische, andere halten Hühner, die nachts in den Bäumen schlafen. Nicht geduldet wird außerdem jede Art von Gesetzesverstoß. Dazu gehört unter anderem der Besitz oder Konsum von Marihuana. Beides ist in Japan streng verboten und damit auch im Wohnheim.
Auch wenn die alles andere als luxuriösen Lebensbedingungen vermutlich viele Studierende abschrecken würden, schätzen die BewohnerInnen die offene Atmosphäre. Auch außerhalb der Studierendenschaft hat das Wohnheim Freunde. Bei öffentlichen Veranstaltungen kommen teilweise auch Eltern mit Kindern auf das Gelände, das insgesamt drei Gebäude beherbergt, die gemeinsam das Wohnheim bilden. Neben dem historischen Bau und dem Veranstaltungsraum kam 2015 noch ein neues Wohngebäude hinzu. Doch nur zwei Jahre später erhielten die Studierenden eine Aufforderung, innerhalb der folgenden neun Monate sowohl die alten als auch das neue Gebäude zu räumen. Die Universität verspricht ihnen alternativen Wohnraum, aber die Studierenden möchten die Selbstverwaltung und die Geselligkeit des Ortes nicht aufgeben. Unterstützung erhalten sie dabei unter anderem von AnwohnerInnen, ehemaligen BewohnerInnen und einigen ProfessorInnen. Der bereits vierte Versammlungstermin des laufenden Gerichtsverfahrens musste aufgrund der Covid-19-Krise auf den 18. September verschoben werden.
Doch die Situation scheint festgefahren, schon bei grundlegenden Punkten ist man sich uneinig: Besteht ein gültiger Vertrag zwischen der Universität und den Studierenden? Welche Rechte hat die Universität über das Gebäude? Besteht ein Einsturzrisiko im Falle eines Erdbebens?
Die Studierenden sehen in der Anklage einen Einschüchterungsversuch. Das Hauptanliegen der Universität ist in ihren Augen die Abschaffung der Selbstverwaltung des Wohnheims, und der Gebäudeverfall ein willkommener Vorwand. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit Pläne, das Wohnheim zu renovieren, die aber ohne Angabe von Gründen zurückgezogen wurden.
Wer am Ende Recht erhält, wird sich wohl erst frühestens im nächsten Jahr entscheiden. Sicher ist, dass mit einem Abriss des Wohnheims ein außergewöhnlicher Ort und ein Stück gelebte Geschichte in Kyoto für immer verschwinden würde.
Von Carolina Hoffmann