Im Zeitalter von Political Correctness und Gender-Stern markieren Politiker und Politikerinnen ihren Standpunkt oftmals schon mit Begriffen. Diese Taktik ist keine moderne Erfindung: Schon immer wurden gesellschaftliche und ideengeschichtliche Entwicklungen von einem entsprechenden Wandel in der Sprache begleitet. Ekkehard Felder ist Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Heidelberg und forscht über den Zusammenhang von Sprache und politischen Positionen im öffentlichen Diskurs. Er ist unter anderem Herausgeber der Handbücher Sprache und Wissen sowie Sprache und Recht. Im Gespräch mit dem ruprecht gibt er Einblicke in sein Forschungsfeld und erklärt, wie ein Kampf um Wörter eigentlich ausgetragen wird.
Neben Ihren vielen wissenschaftlichen Publikationen schreiben Sie auch Blog-Beiträge, in denen Sie sich aktuellen, meist politischen Themen aus linguistischer Perspektive nähern. Den Blog haben Sie „Semantische Wettkämpfe“ genannt – was ist darunter zu verstehen?
Semantik ist die Lehre der Bedeutungen von Wörtern, von Sätzen, von Texten. Wörter sind oft mehrdeutig, insofern gibt es einen Wettkampf um die „richtige“, genauer gesagt: um die angemessene Bedeutung. Wer sich mit seinen Ideen im Diskurs durchsetzen will, muss seine Wortwahl auch unter strategischen Gesichtspunkten reflektieren. Ein semantischer Wettkampf ist also ein Ringen um angemessene Bezeichnungen sowie Wortbedeutungen und somit um die Wahrheit.
Beispielsweise ist umstritten, ob wir von „therapeutischem Klonen“ oder „Forschungsklonen“ sprechen sollten: Ersteres verspricht schon in der Bezeichnung die Heilung, das zweite Wort lässt offen, ob die Forschungen tatsächlich zu dem gewünschten Erfolg führen. Um solche sprachlichen Wettkämpfe für das Richtige geht es: Welcher Sprachgebrauch setzt sich durch? Wer wählt welche Variante mit welchem Motiv und zu welchem Zweck? Was sagen die unterschiedlichen Formulierungen über die Denkhaltung aus? Wie abhängig sind unsere Wirklichkeitsvorstellungen von sprachlichen Formulierungen?
Sie schreiben in Ihrem letzten Beitrag an einer Stelle: „Sätze mit politischem Inhalt sollen die Wahrheit ausdrücken.“ Kann in der Sprachwissenschaft überhaupt von Wahrheit die Rede sein oder ist Wahrheit immer sprachlich konstruiert?
Die Semantik als Teildisziplin der Sprachwissenschaft kann nicht die Wahrheit ermitteln. Aber Sprecher, die im Diskurs mitmischen, haben eine Vorstellung von dem, was sie für wahr und richtig halten. Nur weil es bei kniffligen Fragen keine intersubjektive und für alle gültige Wahrheit gibt, nur deswegen ist Wahrheit nicht mit relativer Beliebigkeit gleichzusetzen. Ein bestimmter Sachverhalt – gedacht als Wahrheit im Sinne eines Kontinuums – kann approximativ im Diskurs von vielen (wenn auch nicht von allen) geteilt werden und ist keinesfalls beliebig. Wo die Sache umstritten bleibt, gibt es nicht die intersubjektiv gültige Wahrheit.
Der politischen Linken wird von konservativer Seite vorgeworfen, den Menschen ihre Weltanschauung per political correctness aufzwängen zu wollen. Würden Sie den „Genderwahnsinn“ oder den Streit um die korrekte Bezeichnung schwarzer Mitmenschen auch als semantische Wettkämpfe bezeichnen?
Selbstverständlich, das ist ein gutes Beispiel, bei dem viele Menschen mitreden und eine Meinung haben. Wörter im konkreten Gebrauch sagen oftmals nicht nur etwas über die Welt aus, sondern sie stellen auch eine Geste dar; sie signalisieren etwas Zusätzliches. Manche wollen den Zusatz ausdrücken, andere nicht.
Das heißt konkret: Wenn jemand den Genderstern in einem Satz wie „Kund*innen bitte am Seiteneingang unseres Geschäftes klingeln“ verwendet, dann will diese Person zum Ausdruck bringen, dass sie neben dem inhaltlichen Hinweis – nämlich am Seiteneingang zu klingeln – gleichzeitig und obendrein signalisieren möchte, dass sie Frauen, Männer und Menschen außerhalb dieser Bipolarität ausdrücklich in ihrem geschlechterbezogenen Selbstverständnis würdigen will. Es handelt sich sozusagen um eine sozialsymbolische Zusatzinformation neben dem reinen Satzinhalt.
Und wer gewinnt?
Das kann niemand vorhersagen, Diskurse haben ihre eigene Dynamik.
In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Debatten um Begriffe wie die „Volksgemeinschaft“ oder auch „völkisch“, die aufgrund ihrer Karriere im NS-Regime heute in der Regel nicht mehr verwendet werden. Dabei wird als Argument für deren Gebrauch gerne angeführt, dass sie in ihrer ursprünglichen Bedeutung ja keine negativen Begriffe seien. Welche Rolle spielt die Geschichte eines Wortes für dessen Semantik?
Wörter haben keine ursprüngliche Bedeutung. Niemand bezweifelt, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes sich in Artikel 3 gegen Rassismus aussprechen wollten. Dennoch wird heute diskutiert, ob der Ausdruck „Rasse“ aus dem Artikel herausgenommen werden soll. Die Welt verändert sich und damit auch die Sprache und das Denken.
Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Zum Abschluss: Lohnen sich die Wettkämpfe? Kann eine entsprechende Wortwahl ein inklusives und respektvolles Miteinander bewirken oder wird die Macht der Sprache hier doch überschätzt?
Aus linguistischer Sicht ist jeder fair und anständig ausgetragene Wettkampf um die „richtigen“ Worte immer zu begrüßen, weil sich die beteiligten Menschen dann über eine wünschenswerte Wirklichkeit, über Gerechtigkeit usw. austauschen. So die Theorie; die Praxis sieht leider nicht immer so aus, umso schlimmer für die Praxis.
Das Gespräch führte Cosima Macco.