Vitali Alekseenok, Sie sind Chefdirigent und musikalischer Leiter des Abaco-Orchesters der Universität München. Sie haben sich im August dazu entschlossen vor Ort in Belarus an den Wahlen teilzunehmen. Wie haben Sie die Wahlnacht und die folgenden Wochen dort wahrgenommen? Wie war die Stimmung?
Am 9. August war ich zuerst in meiner Heimatstadt wählen. Dann bin ich zurück nach Minsk und war mit meinen Freunden den ganzen Abend vor verschiedenen Wahllokalen, um auf die Ergebnisse zu warten. Nach dem belarusischen Gesetz ist es nämlich so, dass die Wahllokale dazu verpflichtet sind, uns die Ergebnisse zu zeigen, was einige Wahllokale jedoch nicht gemacht haben.Die Ergebnisse, die wir bekommen haben waren sehr unterschiedlich. Einmal hatte Lukaschenko gewonnen, einmal Zichanouskaja, einmal war es “cosi cosi”. Dabei muss man noch erwähnen, dass seit mittags das gesamte Internet ausgeschaltet war. Es gab weder WLAN noch mobiles Internet, nur SMS konnte man noch schreiben. Deswegen haben wir alle ein wenig im Dunkeln getappt. Wir wussten nicht wie die Ergebnisse sind.
Einige Leute haben es dann geschafft das Internet durch bestimmte VPN-Apps zu verbessern. Sie konnten dann einige Neuigkeiten lesen. Lukaschenko sollte demnach 79-80% bekommen haben. Wir waren alle empört, denn niemand von uns persönlich kannte irgendwen, der für Lukaschenko gewählt hatte – seit Jahren nicht. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es kleine Proteste vor den Wahllokalen, später kamen auch Spezialeinsatzkommandos der Polizei. Sie haben versucht uns wegzutreiben. Das war alles schon sehr aggressiv.
Es war dann ein sehr großer Protest im Zentrum von Minsk geplant. Dahin wollten ich und meine Freunde gehen, er war aber fünf bis sieben Kilometer von meinem Ort entfernt. Zu dem Zeitpunkt wurde die gesamte U-Bahn blockiert, vor allem im Stadtzentrum. Da es kein Internet gab, konnte man kein Taxi bestellen. Auch das ganze Stadtzentrum an sich war gesperrt. Das heißt die Busse und Tram und so weiter sind nicht gefahren. Wir hatten kein Auto, wir konnten nicht dorthin. Deswegen sind wir zu einer Freundin von uns und haben dort Nachrichten gelesen. Erst da haben wir gesehen wie heftige Gewalt teilweise vor den Wahllokalen eingesetzt worden ist.
Am 10. August haben die Proteste nochmal stattgefunden. Was ich erstaunlich fand, ist, dass während des Tageslichtes, alles so aussah als ob nichts passiert wäre. Es war ein Montag und die Menschen haben die Spuren der Nacht versteckt und sind einfach zur Arbeit gegangen. Aber am Abend gab es noch viel heftigere Proteste, bei denen ich fast festgenommen wurde. Ich hatte großes Glück, denn an dem Tag wurde auch eine Person erschossen und es gab unglaubliche Gewalt in den Gefängnissen. Mir war bewusst, dass ich ins Gefängnis kommen kann. Ich hab’s mir nicht vorgenommen, aber ich wusste, was ich riskiere.
In den Tagen vom 9.-11. August wurden zwei bis drei Menschen ermordet und 7000 Menschen festgenommen. Es wurden so viele Menschen festgenommen, wie noch nie in der modernen Geschichte Belarus. Ich war bei den Protesten 2010 nach den Wahlen dabei und da wurden nur ca. 600 Menschen festgenommen. Bereits da waren wir schockiert.Die Gefangenen mussten zum Teil zu dreißigst in einem Raum, der nur für 4 Personen gedacht war. Sie konnten nicht sitzen, sie waren da wie Sardinen in einer Konserve. Davor und danach wurden sie verprügelt.
Der nächste Knackpunkt war Mittwoch, der 12. August. Das Internet wurde überall wieder eingeschaltet. Davor waren wir alle wie in einem Informationsvakuum. Das gesamte Land konnte sehen, was in den drei Tagen passiert ist, wie viele Menschen festgenommen wurden und vor allem auch welche Gewalt eingesetzt worden ist. Zu dem Zeitpunkt sind auch die ersten Zeugen aus den Gefängnissen gekommen und das ganze Land war empört, über das, was berichtet wurde. Es war ganz klar festzustellen, dass die Regierung diese drei Tage für die Gewalt eingeplant hatte. Vor allem auch weil es schon vor den Wahlen Gerüchte darüber gab, dass das Internet wahrscheinlich abgeschaltet wird. Es war alles geplant.
Es war bekannt, dass die Regierung das Internet abschalten wird?
Ein Taxifahrer hat das zum Beispiel einem Freund von mir erzählt. Sie wurden wohl irgendwie inoffiziell informiert. Sie wussten schon, dass sie da nicht arbeiten können. Aber auch ohne Internet haben sie nicht gearbeitet. Wenn man sie übers Handy angerufen hat, haben sie sich einfach geweigert zu kommen.
Wie hat sich die Situation nach dem 12. August entwickelt?
Was die Regierung nicht verstanden hat ist, dass je mehr Gewalt sie einsetzen, umso mehr Proteste löst das aus. Am 12. August war der wichtigste Knackpunkt. Die Menschen haben da nämlich schon morgens angefangen zu demonstrieren. Am eindrücklichsten war die Menschenkette aus ungefähr 250 Frauen. Sie haben sich in weiß gekleidet, Blumen in die Hand genommen und diese Kette gebildet. Die Polizei war überfordert. Es war keine klassische Demonstration am Abend mehr, sondern eine am helllichten Tag. Und dazu noch von einer Gruppe von Frauen. Ich war auch bei dieser Frauenaktion dabei, ich kam gerade dazu als sie von einem Spezialkommando der Polizei “weggeschoben” wurden. Sie wurden zwar nicht festgenommen, aber ihnen wurde verboten im Stadtzentrum von Minsk zu bleiben. Aber statt einzeln wegzugehen sind alle Frauen gemeinsam in eine Richtung marschiert. Das war der erste richtige Protestmarsch. Das Bild war sehr schön und stark. Es wurde Frauengeschichte geschrieben. Weil unser Land noch sehr traditionell und auch sexistisch ist, wurden Frauen teilweise auch nicht festgenommen. Es wäre für einen Mann eine Schande gewesen, eine Frau festzunehmen. Von den 7000 Menschen, die zu Beginn festgenommen wurden, waren der größte Teil tatsächlich Männer.
Wir hatten am 12. August, immer noch keine offiziellen Ergebnisse bekommen. Sie kamen erst zwei Tage später. Es war klar, dass die Regierung wieder die Ergebnisse fälscht. Wir waren nur schockiert von der Gewalt mit der die Regierung gegen uns vorgegangen ist. Das hat uns alle vereint.
Belarus wird schon lange als „letzte Diktatur Europas“ bezeichnet und die OSZE erklärt alle Wahlen nach 1994 als undemokratisch. Wie erklären Sie sich, dass das Aufbegehren gegen diese Verhältnisse erst bei diesen Wahlen, eine solche Wucht erlangt hat? Wie Sie bereits angesprochen haben, sehen Sie einen Grund dafür in der ausufernden Gewalt der Einsatzkommandos. Gibt es weitere Erklärungsansätze?
Ja, definitiv. Ein wichtiger Faktor ist die Corona-Pandemie. Sie war einer der ersten Schritte zur Solidarisierung der belarusischen Bevölkerung. Lukaschenko hat damals die Pandemie verneint. Er bezeichnete sie als “Psychose”. Er hat die ersten Verstorbenen noch öffentlich übers Fernsehen ausgelacht. “Warum geht ihr auch auf die Straße, wenn ihr eine Risikogruppe seid?”, hat er gesagt. Das war das erste Mal, dass die Menschen verstanden haben, dass Lukaschenko nicht auf ihrer Seite ist. Daraufhin haben sich unglaublich viele Menschen solidarisiert. Ab Mai kam dann die Präsidentenkampagne hinzu, bei der die Menschen letztendlich ihre Geduld verloren haben.
Wie hat sich der Gewalteinsatz seit der Wahlnacht entwickelt?
Es werden weniger, aber weiterhin regelmäßig, Menschen festgenommen. In den Gefängnissen selbst werden die Insassen erniedrigt. Ein Freund berichtete, dass die Protestierenden sich ausziehen, nackt Sportübungen machen und die belarusische Hymne dabei singen müssen. Seit dem 12. August gab es eine Woche, in welcher keiner wusste, was mit den Protestierenden geschieht. Mittlerweile haben wir wieder jeden Sonntag Demonstrationen von hunderttausenden Menschen in Minsk und weiterhin werden viele von ihnen festgenommen.
Was war die Motivation bei den Protesten persönlich dabei zu sein und inwiefern ist es für Sie möglich aus Deutschland weiterhin beizutragen?
Es ist definitiv möglich von hier aus mitzuwirken. Wir haben den Verein RAZAM in Berlin gegründet, welcher deutschlandweit aktiv ist. Diese Initiative verbindet die Belarusen Deutschlands. Plötzlich haben wir entdeckt, wie viele Belarusen in Deutschland zusammen etwas erreichen können. Im Juli haben wir uns mit Mitgliedern des Europaparlaments getroffen, was uns gezeigt hat, dass unsere Meinung wichtig ist. Unsere Stimmen sind mittlerweile wichtiger, als die belarusische Botschaft in Berlin, welche für Lukaschenko arbeitet. Wir konnten medizinische und finanzielle Hilfe, Arbeit mit der Presse und Politik in die Wege leiten. Im Juli habe ich dann erst richtig realisiert, was ich alles erreicht habe. Und so sehr ich diese Arbeit für wichtig hielt, wusste ich, dass ich vor Ort dabei sein möchte. Ich wollte meine Stimme unverfälscht abgeben, wollte meine Familie und Freunde sehen und natürlich selbst protestieren.
Ich entschied mich dazu nach Belarus zu fliegen, obwohl mich einige meiner belarusischen Freunde warnten, dass die Namen von mir und meinen Freunden wahrscheinlich schon bei den belarusischen Geheimdiensten vorlagen.
Es war ein merkwürdiger Unterschied von Deutschland zu Belarus: In Deutschland hatte ich Kontakte zu den höchsten Politikern und in Belarus war ich ein ganz einfacher Aktivist. Den Zusammenhalt aller Bevölkerungsschichten in den Protesten habe ich sehr genossen. Meine Beteiligung bei den Protesten hat, denke ich, nicht weniger bewirkt als meine Arbeit in Deutschland.
Das heißt, während den Protesten war die Stimmung eine Mischung aus Angst und Zusammenhalt?
Ja. Es war immer eine Entscheidung auf die Straße zu gehen. Jeder wusste, er kann vielleicht an dem Abend nicht mehr nach Hause zurückkommen. Und das ist vielleicht das Entscheidendste: was wir in Deutschland machen ist wichtig, aber wir riskieren nichts. Die Belarusen riskieren hingegen unheimlich viel. Wenn du so ein Risiko siehst, es aber akzeptierst und trotzdem weitermachst – das ist ein Zeichen, dass du als Person wirklich bereit bist alles zu geben.
Ich konnte mir im Juli noch nicht vorstellen, was es heißt jeden Tag dieser Angst in die Augen zu schauen. Nachdem wir am ersten August erfuhren, welche Gewalt die Protestierenden erleben, war mir diese Angst sehr bewusst.
Wahrscheinlich war es die Euphorie darüber, dass wir so viele sind, die diese Angst – wenn auch nur für kurze Zeit – besiegen konnte. Das hat uns Energie gegeben. Man wusste, „ich gehe auf die Straße und habe mit meiner eigenen Angst zu kämpfen“, aber tausende weitere Belarusen dachten das gleiche. Dass wir alle so an einem Ort versammelt waren, hat etwas zu bedeuten.
Was für eine Zukunft würden Sie sich für Belarus wünschen?
Ich wünsche mir eine Zukunft, in der Belarusen selbst über ihre Handlungen und ihr Land bestimmen können und keinen Befehlen folgen müssen. Ich habe im August zum ersten Mal die neue Generation an Belarusen erlebt und wie sich mit ihr die alte Generation in Richtung Demokratie und freier Meinungsäußerung entwickelt hat. Diese Belarusen sind empathisch, sie sind freundlich, sie sind friedlich, sie sind intelligent – sie sind ein Zukunftssymbol von Belarus. Sie symbolisieren eine offene, tolerante, gewaltfreie Welt. Ich wünsche mir, dass diese Menschen in Belarus gehört werden.
Das Gespräch führten Sarah Ellwardt und Annika Beckers
Sarah Ellwardt studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2020 für den ruprecht – vor allem für das Ressort Wissenschaft. Ihr Antrieb ist es, einen Zugang zu aktuellen wissenschaftlichen Themen zu schaffen, um die Welt verständlicher zu machen. Seit Dezember 2020 leitet sie das Ressort Studentisches Leben.
Annika Beckers ist momentan im zweiten Semester ihres Anglistik und Politikwissenschaft Studiums. Seit 2019 ist sie Autorin beim ruprecht. Dabei berichtet sie sowohl über aktuelle Entwicklungen, als auch über kulturelle Themen.