„Ich wache morgens auf und da ist ein Druck auf meiner Brust. Sofort schießt mir der eine Gedanke durch den Kopf: Ich bin noch nicht gut genug! Ich weiß dieses oder jenes noch nicht. Ich muss… Und dann beginne ich alle meine Defizite über den Tag abzuarbeiten. Ich darf nichts falsch machen, muss nach vorne, muss besser werden. Und der Druck wird weniger. Ich gehe schlafen, wache am nächsten Morgen auf und er ist wieder da – genauso stark wie am Tag zuvor.“
Die Heidelberger Studentin Alina beschreibt im Interview, wie sich Perfektionismus auf ihren Studienalltag auswirkt. Sie durchlebt in Klausurenphasen diesen sich immer wiederholenden Teufelskreis. Er lässt sich kaum durchbrechen und zermürbt sie mehr und mehr. Sobald sie das Gefühl hat, eine Frage nicht beantworten zu können, erfasst sie der Zwang, das gesamte Thema akribisch aufzuarbeiten. Sie beginnt, kleinste Details nachzulesen und greift, wenn nötig, auf Doktorarbeiten und Studien zurück.
Ihr Perfektionismus betrifft auch andere Lebensbereiche: „Wenn ich ein Work-out mache und eine Übung nicht richtig ausführe, muss ich sie abbrechen. Und wenn nur meine Beine nicht perfekt im rechten Winkel ausgerichtet sind. Ich muss komplett von vorne beginnen – alles wiederholen. Ich mache das, solange, bis ich das Gefühl habe, alles zu beherrschen.“ Alltagssituationen werden auf diese Weise zu einer Mammutaufgabe.
Ihre Angst, Fehler zu machen, stößt in ihrem Umfeld auf Unverständnis. „Du kannst eh alles!“, ist ein Satz, den sie häufig hört. „Der Preis, den ich dafür zahle, ist zu hoch. Die Belastung ist unerträglich“, erklärt sie. Sie fühlt sich gezwungen in allen Lebensbereichen Hundert Prozent zu geben, und zu erreichen. Dabei nimmt sie keine Rücksicht auf ihren körperlichen und geistigen Zustand.
Perfektionismus in der Psychologie
Der Perfektionismus, unter dem Alina leidet, nennt sich selbstorientierter Perfektionismus. Neben diesem unterscheidet die Psychologie zwischen zwei weiteren Formen: dem sozial vorgeschriebenen und dem fremdorientierten Perfektionismus.
Bei selbstorientierten Perfektionist*innen überschreitet die Motivation, etwas gut zu machen, die Grenze des Gesunden. Sie setzen ihre Maßstäbe so hoch an, dass „gut sein“ nahezu unmöglich wird. Ihre Denkmuster halten sie gefangen und geben ihnen keine andere Möglichkeit als sich schlecht zu bewerten. Weiterhin baut ihr Selbstwertgefühl stark auf ihren Erfolgen auf. Deswegen versuchen sie um jeden Preis, Fehler zu vermeiden.
Die eigenen Standards spielen bei sozial vorgeschriebenen Perfektionist*innen eine geringere Rolle. Vielmehr übt ihr Umfeld hohen Druck auf sie aus. Sozial vorgeschriebene Perfektionist*innen reagieren mit perfektionistischen Charakterzügen und starker Selbstkritik. Obwohl sie nicht den persönlichen Wunsch haben, „perfekt“ zu sein, drängt sie der äußere Zwang in den Perfektionismus.
Das Selbstbild selbstorientierter und sozial vorgeschriebener Perfektionist*innen leidet stark. Sie können ihre Erwartungen kaum erfüllen. Leistungen, die Nicht-Betroffene als Erfolg bewerten, werden nach ihren Standards zu Misserfolgen. Ihr geschärfter Blick für eigene Fehler gibt ihnen das Gefühl, in einer Serie von Misserfolgen gefangen zu sein. Ihr Selbstwertgefühl sinkt und sie werden anfälliger für psychische Probleme wie Depressionen, Ess- und Zwangsstörungen.
Fremdorientierter Perfektionismus unterscheidet sich von den beiden erstgenannten Formen in seinen Ansprüchen: Andere sollen perfekt sein — unverhältnismäßige Erwartungen gelten nur für das Umfeld. Darüber hinaus sind fremdorientierte Perfektionist*innen sehr kritisch gegenüber Menschen, die ihren Maßstäben nicht gerecht werden.
Generation „Perfektionistisch“
Die psychologische Fachzeitschrift „Psychological Bulletin“ veröffentlichte 2018 die erste Studie, die Perfektionismus generationsübergreifend verglich. Das Ergebnis: Jüngere Generationen werden perfektionistischer – besonders sozial-vorgeschriebene Perfektionist*innen werden mehr.
Frank-Hagen Hofmann, leitender Psychologe der Psychosozialen Beratungsstelle für Studierende in Heidelberg (PBS), beobachtet diese Entwicklung seit einigen Jahren bei Studierenden. Sie berichteten häufiger von Leistungsdruck und dem diffusen Gefühl, etwas zu verpassen („fear of missing out“). Außerdem wären viele überzeugt, noch nicht den perfekten Lebensentwurf gefunden zu haben und dadurch Zeit zu verlieren.
Woran liegt das? „Am wahrscheinlichsten ist ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren“, erklärt Hofmann. „Wir leben in einer Gesellschaft, die Leistung belohnt. Optimierung und Selbstverwirklichung scheinen zunehmend wichtig. Fitnesstracker und Wearables erlauben die Beobachtung körperlicher Parameter und laden zur Optimierung von Schlaf und Gewicht ein. Wir sehen über Social Media erfolgreiche, sportliche und attraktive Menschen. Das weckt Sehnsüchte und schafft Maßstäbe, an denen man sich misst.“
Reflexion als Ausweg
Alina hat einen Umgang mit ihrem Perfektionismus gefunden. Sobald sie in perfektionistische Muster verfallen droht, halte sie kurz inne und frage sich: Warum verspüre ich gerade diesen Zwang? Ist er berechtigt? Wie würde jemand an meiner Stelle diese Situation bewerten? Die Fragen helfen ihr, sich zu beruhigen.
Frank-Hagen Hofmann empfiehlt einen ähnlichen Ansatz: Er legt Perfektionist*innen nahe, ihre eigenen Ansprüche zu hinterfragen und Misserfolge anders zu bewerten. Sie sollen das Verhältnis von Nutzen und Kosten ihrer perfektionistischen Einstellung gegeneinander aufwiegen. Er betont, wie wichtig es ist, körperliche Signale aufmerksam wahrzunehmen und Phasen der Ruhe und Entspannung einzuplanen. Studierende müssten sich auch mit Dingen beschäftigen, die ihnen guttun und wenig mit Leistung zu tun haben.
Alina wünscht sich eine offenere Kommunikation über Perfektionismus und mehr Verständnis unter Studierenden. Sie möchte häufiger über ihren Zwang reden und ihr Umfeld sensibilisieren. Denn ihr ist bewusst, wie wichtig es, ist alle Facetten des Perfektionismus darzustellen.
Natürlich geht das Streben nach außerordentlichen Leistungen mit Erfolgen und sozialer Anerkennung einher. Aber was passiert, wenn aus ihnen Misserfolge werden? Das Selbstwertgefühl schwindet und die gesamte Person erfährt eine Abwertung. Das Studium belohnt genauso wie die heutige Leistungsgesellschaft perfektionistische Charakterzüge und vergisst, dass Perfektionismus zwanghaft sein kann. Zuletzt ist Perfektion als höchste Vollendung einer Fähigkeit eine Illusion. Sie ist ein nicht erreichbares Ziel. Das Leid von Perfektionist*innen ist vorprogrammiert. Es treibt sie an ihre körperlichen und geistigen Grenzen – ein Preis, der zu hoch ist.
von Sarah Ellwardt
Der Name von Alina wurde von der Redaktion geändert.
Hilfsangebote (Auswahl):
- Telefonseelsorge: jederzeit erreichbar unter 0800 1110111
- Nightline: im Semester täglich 21 – 2 Uhr unter 06221 184708
- Psychosoziale Beratungsstelle, Gartenstraße 2, Anmeldung am Sekretariat
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe über psychische Probleme im Studium. Weitere Beiträge: Ehrlichkeit statt Smalltalk, Der Preis des Examens und Dröhnende Stille.
Sarah Ellwardt studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2020 für den ruprecht – vor allem für das Ressort Wissenschaft. Ihr Antrieb ist es, einen Zugang zu aktuellen wissenschaftlichen Themen zu schaffen, um die Welt verständlicher zu machen. Seit Dezember 2020 leitet sie das Ressort Studentisches Leben.