Zur allgemeinen Lage: Aneinandergeraten sind private Investoren, die sich im Online-Forum r/wallstreetbets organisiert haben, und „Big Money“ Hedgefonds-Gesellschaften. Warum „Big Money“? Weil Hedgefonds-Gesellschaften allein in den USA ein kombiniertes Vermögen von über 3 Billionen US-Dollar verwalten. Das sind zwölf Stellen nach dem Komma. Die Privatanleger haben das hohe Risiko von Short-Positionen genutzt, um Wallstreet eins auszuwischen – mit der Folge, dass Hedgefonds bis jetzt Verluste in zweistelliger Milliardenhöhe (yahoo finance) verbuchen mussten. Höhere Verluste sind noch möglich.
Das Technische in Kürze (wer sich auskennt oder wem das zu langweilig ist, kann einfach zum nächsten Abschnitt springen)
Der Schauplatz des Konflikts ist die Gamestop-Aktie, die seit Jahren von Hedgefonds „geshortet“ wird. Um zu verstehen, was ein Short ist, wollen wir uns zuerst anschauen, wie der „einfache“ Aktienhandel normalerweise funktioniert. Dies geschieht bei einer long Position (wir halten eine Aktie also auf Zeit) nach dem Muster: buy low, hold, sell high. Wir kaufen also eine Aktie, weil wir davon ausgehen, dass der Kurs in Zukunft nach oben gehen wird. Wenn der Kurs gestiegen ist, verkaufen wir die Aktie und tüten unsere Gewinne ein. Ein Kurs kann aber nicht nur steigen, sondern auch fallen. Halte ich eine Aktie in einer long position und der Kurs fällt, dann verliere ich potenziell Geld.
Kann ich auch mit fallenden Kursen Geld machen? Ja, und genau dazu gibt es Shorts: Wenn sich ein Anleger bei einer Aktie sicher ist, dass der Kurs in Zukunft fallen wird, kann er eine „short position“ eröffnen. Dazu „leiht“ er sich für eine bestimmte Zeit Aktien, für die eine kleine Gebühr an den Verleihenden zu zahlen ist. Mit den geliehenen Aktien wird das vorherige Muster einfach umgedreht: sell high, wait, buy low. Wir verkaufen die geliehene Aktie also bei einem höheren Kurs, warten darauf, dass der Kurs fällt, und kaufen die Aktie, die wir zurückgeben müssen, wieder ein. Die Kursdifferenz streichen wir als Gewinn ein.
Warum sollte jemand seine Aktien verleihen? Wenn ich meine Aktien halte und nicht vorhabe, sie in den nächsten Jahren zu verkaufen, dann kann ich sie für eine Gebühr verleihen, um ein bisschen mehr Geld rauszuschlagen. Es gibt in der Regel immer mehr Aktien, die gehalten werden (inaktiv rumliegen), als aktiv gehandelt werden. Durch Verleihen von inaktiv gehaltenen Aktien kann also zusätzlich Geld generiert werden, ohne die eigenen Aktien verkaufen zu müssen.
Zurück zu Gamestop: Seit Jahren läuft es bei dem Computerspiele-Händler nicht gut. Die Einnahmen gehen zurück, Gamestop-Geschäfte müssen schließen, unter anderem in der Heidelberger Hauptstraße. Man nahm an, das Geschäftsmodell des stationären Handels sei dem Untergang geweiht und würde durch Online-Handel und digitale Shops abgelöst. Daher die Short-Seller. Basierend auf diesen Informationen gibt es keinen Grund, warum der Kurs steigen sollte. Bis r/wallstreetbets mitbekommen hat, zu welchem Grad die Aktie „geshortet“ wurde.
Das Subreddit hat nämlich realisiert, dass mehr Aktien geshortet wurden als aktiv auf dem Markt gehandelt werden. Zum Verständnis: Ein Short ist nur dann erfolgreich, wenn der Kurs gesunken ist und ich die Aktie wieder einkaufen kann. Aber was passiert, wenn der Restbestand der auf dem Markt frei verfügbaren Aktien aufgekauft wurde? Schlimmer noch: Was passiert, wenn meine Short-Position abläuft und ich dazu gezwungen werde, die Aktie wieder einzukaufen, egal zu welchem Preis. Genau diese Situation wird als „short squeeze“ bezeichnet.
Die Benutzer von r/wallstreetbets haben erkannt, dass die Nachfrage an Gamestop-Aktien durch die Hedgefonds-Shorts das Angebot an frei verfügbaren Aktien am Markt übersteigt und alle frei verfügbaren Aktien aufgekauft, womit der Preis nach oben gepeitscht wurde. Schafft es jemand das Angebot zu kontrollieren, während er im Voraus weiß, dass eine bestimmte Nachfrage besteht (die Short-Seller müssen ja die Aktie wieder einkaufen, um sie zurückzugeben), dann explodiert der Preis. Und zwar gewaltig: Eine Gamestop-Aktie hat am 1. Januar noch 15€ gekostet. Seitdem ist der Kurs auf über 300€ geklettert. Solange Privatanleger ihre Gamestop-Aktien halten, treibt es den Preis weiter nach oben. Das Beste daran: Die Hedgefonds müssen kaufen, was angeboten wird, um ihre Short-Positionen auszulösen.
Die große Frage: Warum das Ganze?
Warum lässt r/wallstreetbets die Hedgefonds bluten und Verluste in Milliardenhöhe schreiben? Wenn man in die Berichterstattung der etablierten Finanz-Medien schaut, dann werden die Privatinvestoren von r/wallstreetbets als machthungrige und profitgierige „Anarchisten“ dargestellt, die den Markt manipulieren, um die etablierten Institutionen der Wallstreet bluten zu sehen. Immer wieder wird betont, dass der Gamestop-Kurs eine Blase ist, die nicht durch die fundamentalen Unternehmensdaten gerechtfertigt ist. Manche Nachrichtenportale werfen den Anlegern sogar Hacking und andere illegale Machenschaften vor, denen es rechtlich nachzugehen gilt. Besonders der Hacking-Vorwurf wird dabei heftig diskutiert, weil die Informationen über Trades von Hedgefonds öffentlich zugänglich sind.
Was die Privatanleger an der Berichterstattung besonders stört: Wenn Hedgefonds und andere riesige Finanzinstitutionen durch ihre Handlungen Kursschwankungen auslösen (den Kurs von Gamestop beispielsweise durch riesige Short-Positionen drücken), dann wird es dargestellt, als würde der Markt seine natürlichen Wege gehen. Aber wenn private Investoren sich organisieren und größere Geldmengen als üblich in die Hand nehmen, dann ist es auf einmal illegal und es wird in den natürlichen Flow des Marktes eingegriffen.
Schaut man in die Posts auf r/wallstreetbets oder r/mauerstrassenwetten (dem deutsche Pendant zu r/wallstreetbets), dann zeichnet sich ein anderes Bild ab. User u/Sad_Chemical_4211 schreibt zum Beispiel:
Und es macht mich wütend, wie jetzt aus allen Rohren hier auf uns gefeuert wird, wie scheinbar nachgedacht wird sogar den Handel 30 Tage auszusetzen. Habt ihr damals, als die Telekomaktien so eine [Schei**] waren, den Handel 30 Tage ausgesetzt? Wo wart ihr damals, als die Finanzkrise Leute in den Ruin getrieben hat? Ah Moment. Da haben nur die Leute von der Straße verloren und nicht die Großen. Denn die habt ihr immer schön aufgefangen.
Wo seid ihr jetzt, als Corona einen Großteil meiner Generation und der nachfolgenden finanziell [gef****] habt? Wo sind die Erleichterungen für Studenten? Wo ist eigentlich unser faires Rentenpaket? [F****] euch einfach alle hart. Ihr gebt uns keine faire Möglichkeit auf Rente, ihr gebt den vielen jungen Menschen in einer Jahrhundertkrise keinen faire Rückhalt. Wir starten in ein Berufsleben, bei dem wir am Ende nix zurück kriegen und zieht gleichzeitig noch die Daumenschrauben an, wenn viele mit finanziellen Belastungen erstmalig in den Beruf starten.
Und dann seid ihr [Wi***] noch wütend, wenn wir in GME investieren, weil eure alten Freunde zu gierig geworden sind und wir jetzt gewinnen könnten. Ich halte. Ich werde nie aufhören zu halten. Und ich werde nachtanken. Einfach, weil ich es kann und weil jeder Cent, den ich in GME stecke, irgendeinen Knaller da draußen Schnappatmung verpasst.
Es geht den Privatinvestoren darum, Wallstreet (den alten, weißen Männern an der Börse) und der Politik (den alten, weißen Männern, die Gesetze machen) eins auszuwischen. Das ist Klassenkampf im 21. Jahrhundert: am Handy, am Rechner und in sozialen Medien. Auf Reddit hat sich r/wallstreetbets organisiert, aber die Memes zu den Geschehnissen machen überall die Runde. Besonders junge Privatanleger (wie u/Sad_Chemical_4211), die nicht mit der wirtschaftlichen und politischen Situation einverstanden sind, machen mit.
Dass es nicht um reinen Profit geht zeigt mitunter der r/wallstreetbets-Nutzer u/possibly6, wenn er einen Screenshot seiner Gamestop-Position zeigt und sagt:
[I’m] a broke college student, my entire savings are in GME. If I didn’t sell for 113k that should tell you something
I put 5k in $GME at $33, could have pulled for $113k but [f***] these hedge funds. Sticking it to Wall Street > Gainz 💎🙌 from r/wallstreetbets
Der Wallstreet eins auszuwischen ist also wichtiger als reiner Profit. Es geht um tieferliegende Ungerechtigkeiten. Während die Wirtschaft durch die Pandemie in Mitleidenschaft gezogen wird, erhalten Banken und Finanzeninstitutionen Finanzspritzen von der Politik, während sie Gewinne auf ihre Short-Positionen einfahren. Der normale Bürger, der wirklich unter der Pandemie leidet, seinen Job verloren hat und jetzt keine Möglichkeit mehr hat, Geld zu verdienen, geht dabei leer aus.
Der deutsche Journalist Deniz Yücel spricht auf Twitter im Zusammenhang von der Gamestop-Aktie von einer politischen Demonstration. Wer sich eine Aktie als Teilnahmegebühr leisten kann, soll so mitdemonstrieren:
Keine Empfehlung, nur ein Kommentar: Wer Gamestop gut findet, ein Depot besitzt oder jemanden fragen kann, den Verlust von derzeit ca. 230€ einstecken kann, kann mit 1 Aktie einsteigen. Nicht als Spekulation, sondern erstmal als Teilnahmegebühr für eine poltischen Demonstration.
— Deniz Yücel (@Besser_Deniz) January 29, 2021
Doch es ist nicht alles Gold was glänzt: Während Hedgefonds, die Gamestop geshortet haben, Verluste in Milliardenhöhe einfahren, profitieren andere Finanzinstitutionen und machen einen riesigen Profit. Während also private Investoren potenziell durch den Verkauf ihrer Gamestop-Aktien Gewinne in Millionenhöhe einfahren können, können wir uns gleichzeitig sicher sein, dass andere Investitionsunternehmen schon Millionengewinne eingetütet haben.
Der Konflikt zwischen Privatinvestoren und den Hedgefonds-Shortsellern wirft die Frage auf, wer den Markt kontrolliert. Natürlich sind das in erster Linie finanziell starke Institutionen: Wer Geld hat, bewegt den Markt. Wie viel Einfluss können organisierte Privatinvestoren also ausüben? In Fällen wie Gamestop, wo sich die Anzahl der verfügbaren Aktien kontrollieren lässt, können sie den Markt beeinflussen. In anderen Fällen sind zu viele Aktien verfügbar. Dort kontrolliert „Big Money“ den Markt. Dies hat sich auch daran gezeigt, wie Online-Trading-Plattformen (wie Trade Republic, WeBull und Robinhood) mit der Gamestop-Situation umgegangen sind. Die Trading-Plattformen haben die Möglichkeiten ihrer Nutzer, die Gamestop-Aktie einzukaufen, eingestellt. Privatinvestoren konnten die Aktie nur noch verkaufen, was den institutionellen Shortsellern in die Hände gespielt hat, weil sie dann die einzigen waren, die die Aktie noch kaufen konnten. Dadurch wird der Preis zwangsweise gedrückt und die Verluste seitens der Wallstreet werden minimiert.
Es bleibt abzuwarten, wie sich der Konflikt entwickelt. Vor allem wie es mit r/wallstreetbets und Shortsellern weitergeht. Die mediale Aufmerksamkeit hat schon Grundsatzdiskussionen rund um die ethische Vertretbarkeit üblicher Wallstreet-Praktiken losgetreten: Warum können Hedgefonds mehr Aktien shorten als frei verfügbar auf dem Markt kursieren? Warum kann man überhaupt mit Aktien handeln, die einem nicht gehören? Und warum dürfen Hedgefonds mit ihren riesigen Geldmengen den Markt frei beeinflussen, doch wenn private Investoren sich organisieren, um zurückzuschlagen und das gleiche zu tun, ist es ein Problem? Mit diesem koordinierten Angriff auf die Wall Street kehren verschüttete Ressentiments zurück, die vor ziemlich genau zehn Jahren zu den Occupy Wall Street-Protesten geführt haben. Was dieses Mal aber anders ist: Statt die vorbeilaufenden Banker ein bisschen zu irritieren, tut ihnen der Milliardenverlust dieses Mal richtig weh. Ein Angriff auf Wall Street muss aus dem Inneren geschehen – nicht von außen.
Wer jetzt immer noch nicht genug hat, sollte sich The Big Short anschauen. Ein fantastischer Film mit unglaublicher Besetzung (Christian Bale, Steve Carell, Ryan Gosling und Brad Pitt), der die Geschichte einiger Anleger erzählt, die das Potential einer Finanzkrise erkannt haben, Banken und Leute warnen wollen, das ganze System dann aber zu Fall bringen müssen, damit ihnen überhaupt jemand ernsthaft zuhört. Sie shorten das korrupte Finanzsystem und machen dabei noch das ganz große Geld. Kommt euch bekannt vor? Ist es auch, denn der Film erzählt die Hintergründe, der „housing bubble“, die die internationale Finanzkrise 2008 herbeigeführt hat. Es ging damals (wie heute) um die grenzenlose Profitgier der Finanzinstitutionen und wie wir dagegenhalten und unsere Wirtschaft zurückgewinnen können. Im Fall von Gamestop? Indem wir halten. Im Allgemeinen? Indem wir koordiniert zurückschlagen.
von Williams Rothvoss-Buchheimer
Williams Rothvoss-Buchheimer studiert Anglistik und Germanistik im Master. Außerdem ist er Juror und Organisationsmitglied für den Heidelberger Autor:innenpreis 2021, Redaktionsmitglied für die Literaturzeitschrift klischée und schreibt seit 2020 für den ruprecht.