9:12. In drei Minuten beginnt die Vorlesung. Langsam sollte ich wirklich aufstehen. Mein Computer braucht seine Zeit, um hochzufahren. Hier der Link zur Vorlesung von heute. Klick. Den Zugangscode eingeben. Enter. Teilnehmername bitte! Schon öffnet sich mit knarzenden Pixeln die Tür in den HeiConf-Raum. Ein kleines Fenster erscheint mit der ewigen Gretchenfrage: Nur zuhören oder mit Mikrofon beitreten? Eigentlich reicht doch das Zuhören, im echten Hörsaal hört man mich höchstens mal niesen. Aber schaut der Dozent in den Chat, falls ich doch eine Frage habe? Bin ich dann vielleicht die Einzige, die stumm wie ein Fisch nur halbexistent in der Teilnehmerliste herumlungert?
Und wenn das schon alles wäre! Während der letzten Semester hat sich ein bizarres, unausgesprochenes Regelwerk der Online-Konferenzen etabliert. Jedes Fach, jeder Kurs, jeder Dozent hat seinen eigenen Onlineknigge, inklusive Fettnäpfchen: Zahlreiche Clips spielen uns vor, was passiert, wenn man versehentlich das Mikro anhat. Ein Grund, zum Kontrollfreak zu werden – oder erst gar kein Mikrofon anzuschließen. Am besten ist ohnehin: Kein Ton, kein Bild.
Wenn man nun aber sprechen muss (oder will), was ist mit der Kamera? Nicht nur eine Frage der Internetbandbreite. Sollen alle sehen, wie ich gelangweilt hinter meinem Schreibtisch vermodere? Und falls ja: sollen die anderen meinen ganzen Oberkörper betrachten können oder nur einen Teil meiner Stirn? Sollte ich die Dartscheibe mit dem Gesicht des Dozenten abhängen? Darf ich mich jetzt überhaupt noch bewegen oder nur lächeln und winken wie die Queen?
Seien wir mal ehrlich: kaum einer schafft es eine Stunde Konferenz durchzuhalten, ohne mehrfach am eigenen Video auf dem Bildschirm kontrollierend hängen zu bleiben: sehe ich gerade zu gelangweilt aus? Sitzt der Bademantel noch? Hab ich noch Ketchup am Kinn?
Je fortgeschrittener das Semester, desto schlimmer werden die eigenen Gepflogenheiten. Ob Kochen, Wäsche zusammenlegen oder Spazierengehen – nach und nach mutieren wir zu Meistern des Multitaskings. Und da ergibt es sich automatisch, dass irgendwann niemand mehr die Kamera anmacht. Vielleicht besser so, wer weiß, was hinter Stummschaltung und abgeklebter Kamera alles passiert.
Raus aus dem Kopfkino, rein in die Hardware-Realität: Was mache ich, wenn die Technik nicht mitspielt? Darf ich meine Frage nochmal stellen, wenn die Antwort durch mein Endgerät klingt wie ein verstimmtes Klavier? Was, wenn Durcheinanderreden einfach von der überforderten Software stummgeschaltet wird? Aus Angst vor solchen Situationen traut sich schließlich erstmal keiner zu reden, auf Fragen erntet der Dozent minutenlanges Schweigen. Unangenehm.
Endlich tönen die erlösenden Abschiedsworte durch die eigenen Kopfhörer. Die einen winken, die anderen schicken ein „Klatsch“-Emoji in den Chat. Und ich? Ich will mir nicht noch einmal den Kopf zerbrechen. Meeting verlassen. Klick.
Von Lena Hilf
...studiert Physik und schreibt seit Oktober 2019 für den ruprecht. Besonders gerne widmet sie sich Glossen, die oft das alltägliche Leben sowie wissenschaftlichen oder politischen Themen. Seit April 2021 leitet sie das Ressort Hochschule.
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.