„Du bist doch schon zweimal durch die Statistik-Prüfung gefallen, woher willst du wissen, ob unser Bildungssystem verbesserungswürdig ist?“ Eine bekannte Situation. Mitten im Streit fällt ein Argument, auf das es schwerfällt, zu antworten. Es richtet sich nämlich nicht gegen das, was gesagt wurde, sondern gegen die Person. Also warum wird diese Art der Argumentation im Streit gerne angewandt, während sie in Diskussionen verpönt ist? Und hat sie vielleicht auch Vorteile?
Debattieren als Schlüsselqualifikation
Ob Diskussionen mit der Professorin oder ein Streit mit Kommilitonen – die Universität ist ein Ort des Meinungsaustauschs. Studierende treffen auf andere Studierende, die ihre Meinung teilen – doch häufig werden sie mit anderen Ansichten konfrontiert. Und das ist gut so. Es ist wichtig, für seine Meinung einzustehen und scharfe Thesen formulieren zu können. Debattieren trainiert das Lesen, Denken und Reden. Nur beim Diskutieren mit anderen erkennen wir, ob unsere eigenen Argumente stimmig sind und erweitern unseren Horizont durch Ansichten der Gegenseite. Wissenschaftliche Fortschritte gibt es, weil sich Forscher:innen zusammengesetzt und diskutiert haben. Die Universität bietet so einen Ort des Lernens und Forschens. Umso wichtiger ist es also, eine Streitkultur zu entwickeln, in der ein ordentlicher Disput möglich ist. Doch was versteht man eigentlich unter dieser „Streitkultur“?
Sie beschreibt eine bestimmte Art und Weise, Streitigkeiten kontrolliert auszutragen. Dies meint, den eigenen Standpunkt vertreten zu können, ohne den Mitstreitenden abzusprechen, dass sie einen abweichenden Standpunkt besitzen und besitzen dürfen. Durch einen Streit werden alte Normen und Fakten infrage gestellt und Möglichkeiten für Alternativen gesucht. Es herrscht die Überzeugung, dass grundsätzlich Positives und Bedeutendes hervorgebracht werden kann. Voraussetzung für eine gute Streitkultur ist nach verbreiteter Ansicht eine sachliche Auseinandersetzung, bei der zwischenmenschliche Beziehungen möglichst nicht strapaziert werden.
Ad-hominem-Argumente
Argumente, die auf die Sprecherposition zielen, anstatt inhaltlich auf ein Thema einzugehen, werden als Ad-hominem-Argumente bezeichnet. Sie gelten als Scheinargumente, als Fehlschlüsse: „Du bist ein weißer Mann. Du kennst das Problem doch gar nicht!“. Beim Streiten wird sich plötzlich auf Eigenschaften des Gegenübers bezogen, die von der politischen Orientierung bis zu dem Geschlecht reichen können.
Sie werden klassisch in drei Formen aufgeteilt. Das ad hominem abusive greift den Gegner direkt an: „Als Genetiker haben Sie Interesse an Forschungsgeldern. Ihren Studienergebnissen kann man nicht trauen!“ Bei dem ad hominem circumstantial wird ein Widerspruch zwischen dem Argument des Gegenübers und dessen Eigenschaften vorgeworfen: „Kein echter Christ unterstützt Abtreibung.“ Schließlich weist ein ad hominem tu quoque auf einen Widerspruch zwischen dem Argument und den Taten oder Worten des Gegners hin: „Das musst gerade du sagen, du rauchst doch selber!“
Rationaler Streit – ist das möglich?
Ad-hominem-Argumente fallen gerne in hitzigen, sehr emotionalen Diskussionen. Daher stellt sich die Frage, inwieweit sie überhaupt verhindert werden können und sollten. Ist es möglich, gänzlich rational zu diskutieren, ohne auf die Person gegenüber einzugehen? Und wollen wir das? Könnte es nicht sein, dass ein guter Streit davon lebt, auch auf Eigenschaften des anderen einzugehen, um so seine Argumentation voll auszubauen?
Ob der Mensch völlig rational handeln und folglich auch diskutieren kann, ist in der Wissenschaft heiß diskutiert. Entscheidend ist dabei, was genau man unter „rational“ versteht.
„Wenn wir damit meinen, dass bei einer rationalen Argumentation am Ende ein einziges richtiges Ergebnis herauskommt, denke ich nicht, dass es möglich ist. Verstehen wir darunter aber eine Argumentation, bei der uns klar ist, dass es mehrere Meinungen gibt und am Ende die verschiedenen Argumente gegeneinander abgewogen werden, dann ist eine rationale Debatte möglich“, sagt Angélique Herrler. Sie ist Mitglied im Heidelberger Debating Club. Auch wenn Gefühle unser Handeln motivieren, ist somit eine rationale Diskussion möglich.
Schlechter Stil oder zielführend?
Ad-hominem-Argumente gelten im Debating Club als schlechter Stil. „Wenn man auf diese Art der Argumentation zurückgreifen muss, bedeutet das, dass man zum Thema keine starken Argumente hat“, meint Angélique. „Die Person des Gegenübers anzugehen, passiert nur aus Spaß. Das sind keine ernsthaften Argumente.“
Aber es kann auch zur Widerlegung einer These beitragen, die Persönlichkeit des Gegenübers mit einzubeziehen. Bereits im 17. Jahrhundert befürwortete der Philosoph John Locke ad hominem, wenn es der Wahrheitsfindung diente. Florian Wanoschek beschreibt in seinen Studien zur Linguistik „‚Rationale Konsenseinigung‘ und die Rolle der Ablenkung in argumentativen Dialogen“, dass Ad-hominem-Argumente heutzutage weniger pauschal betrachtet werden. Stattdessen entwickeln Forscher:innen Kriterien für fehlschlüssige und nicht fehlschlüssige Klassifizierungen: „Neuere Auflagen gebräuchlicher Lehrbücher des logischen Argumentierens beginnen von der Bewertung des ad hominem als reinem Fehlschluss abzurücken.“
Durch Ad-hominem-Argumente werden implizite Interessen sichtbar, die unter Umständen Einfluss auf die vertretene Meinung haben. Wenn in einer Diskussion deutlich wird, dass ein Gentechniker Interesse an Forschungsgeldern hat, schafft das eine höhere Transparenz. Gleichzeitig kann es unter gewissen Umständen sinnvoll und wichtig sein, das Gegenüber darauf hinzuweisen, dass es bestimmte Dinge nicht wahrnimmt, weil ihm die Erfahrung fehlt. So erleben wir aufgrund unserer Positionen in der Gesellschaft strukturelle Bevorzugungen oder Benachteiligungen und haben so eine persönliche Perspektive auf uns und unser Umfeld. Neben der Kritik an der Person des Gegenübers kann die Erwähnung von Privilegien vor allem in gesellschaftspolitischen Themen sachlich zielführend sein.
Es kann also angebracht sein, auf die Person des Gegenübers einzugehen. Allerdings muss differenziert werden, welche Argumente eine persönliche Kritik üben und welche auch sachlich überzeugen. „Was du sagst ist falsch. Einfach nur weil du bist, wer du bist.“ ist unsinnig und bringt niemanden weiter. Wir müssen uns also selbst fragen, ob wir gegen unser Gegenüber wettern, weil wir unsere eigene Meinung nicht wirklich begründen können oder ob wir damit konstruktiv zum Streit beitragen. „Warum genau hältst du unser Bildungssystem für verbesserungswürdig? Vielleicht hast du die Meinung nur wegen der Enttäuschung über deine schlechte Statistik-Note“, klingt einfach besser.
von Julia Bierlein
Julia Bierlein studiert Jura. Sie schreibt seit Anfang 2021 für den ruprecht, am liebsten über die Uni und das studentische Leben in Heidelberg.