Man stelle sich vor, es ist Pandemie. Zugegebenermaßen, nicht besonders schwierig. Aber Sekunde, es geht noch weiter: Es ist Pandemie, und das alle 5 bis 10 Jahre. Okay, hört sich schon nicht ganz so prickelnd an, wir alle hoffen doch, dass diese Pandemie die einzige unseres Lebens bleibt. Aber es kommt noch schlimmer, in dieser Pandemie sterben 25% der Kinder. Oh mann, jetzt ist aber auch mal gut. 25%? Jedes vierte Kind unter 10 Jahren? Das kann doch wohl nicht sein…?!
Aber genau so war es, mit den Pocken zu leben.
Charakteristisch für die Pocken, eine durch Viren übertragende Infektionskrankheit, sind eine Vielzahl von Hautbläschen und übler Geruch. Überlebende bleiben oft mit Narben übersät zurück, in schweren Verläufen erblinden oder ertauben sie, erleiden Gehirnschäden oder Lähmungen. Den Ruf als Kinderkrankheit hat sie, so wie auch alle anderen Kinderkrankheiten, durch ihre Regelmäßigkeit: Wenn alle 10 Jahre eine Pockenepidemie ausbricht, überleben nur diejenigen, die glimpflich davongekommen sind und im Erwachsenenalter nicht mehr erkranken können, da sie immun sind. Dadurch sind die meisten Opfer Kinder, die noch keine Pocken miterlebt hatten.
Geißel der Menschheit
Die Pocken waren ein steter Begleiter der Menschheitsgeschichte, schon seit mehreren tausend Jahren. Die Mumie von Ramses des V. weist bereits die typischen Narben auf – er verstarb 1145 v. Chr.
Auf der ganzen Welt beflügelten die Schrecken dieser Krankheit die Suche nach Lösungen. Dies konzentrierte sich jedoch oft auf das Beten zu Gottheiten, wie beispielsweise Shitala, der indischen Pockengöttin. In Europa hingegen standen alkoholische Methoden hoch im Kurs. So verschrieben Mediziner ihren Pockenpatienten gut und gerne 12 Flaschen Bier und einen Schnaps, alle 24 Stunden mündlich verabreicht.
Die ersten Versuche, einer Krankheit durch eine vorbeugende Konfrontation in abgeschwächter Form zu entkommen, datieren sich auf 200 vor Christus. Sichere Quellen gibt es allerdings erst ab dem späten 17. Jahrhundert. Die Kinder des chinesischen Kaisers K’ang Hsi bekamen die sogenannte Variolation, eine Vorläuferin der modernen Impfung. K’ang Hsi hatte als Kind selbst an den Pocken gelitten.
Bis zur Entwicklung der ersten Impfung sollte Variolation die einzige Methode bleiben, um Kinder zu schützen. Einem akut Erkrankten werden einzelne Pocken geöffnet und der heraustretende Saft bei einem gesunden Menschen durch Einritzen der Haut verabreicht. Die Pockenviren sind zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht abgeschwächt oder gar tot. Es gibt starke Nebenwirkungen, und noch immer starben etwa 3% der Patienten. Im Vergleich zur Letalität der Krankheit selbst dennoch ein deutlicher Erfolg – fast jeder Dritte war an den Pocken gestorben.
Nach Europa gelangte diese Technik im Jahr 1721 durch Lady Montagu, eine berühmten Autorin ihrer Zeit. Montagu hatte die Technik im damaligen Konstantinopel beobachtet und ließ sie daraufhin bei ihrem Sohn durchführen ließ. In Amerika war Variolation bereits 1706 durch afrikanische Sklaven bekannt geworden.
Die Pocken sind eine reine Menschenkrankheit. Andere Spezies können sich zwar mit verwandten Viren anstecken, die Krankheitsverläufe sind aber um ein Vielfaches milder und nicht tödlich. Sie rufen aber die typischen Pusteln hervor, was die Erkennung erleichtert. So verhält es sich auch mit den Kuhpocken, eine Krankheit die, zumeist den Euter der Kuh befällt und sich beim Melken auch auf den Menschen übertragen kann. Die Betroffenen litten allerdings nur an sogenannten Melkerknoten, Pusteln an Händen und Unterarmen, die innerhalb weniger Wochen verheilten.
Das kleinere Übel
Könnte ein Kuhpockenpatient immun gegen die „echten“ Pocken sein? Das vermutete 1774 Benjamin Jesty, ein englischer Bauer und Kuhzüchter. Jesty infizierte während einer Pockenepidemie kurzerhand seine Frau und Kinder mit den Kuhpocken. Als die Kinder einige Jahre später mittels Variolation gegen Pocken immunisiert werden sollten, entwickelten sie keinerlei Symptome – ein erster Beleg für langfristige Immunität durch die neue Methode. Doch Jesty war ein Bauer, der keinerlei Ambitionen zeigte, Studien durchzuführen und sein provisorisches Wissen in die Welt zu tragen. Deshalb verbindet man diese erste Impfung meist mit dem Namen Edward Jenner.
Im Grunde führte der Landarzt Jenner 1776 genau die gleichen Versuche durch, die Jesty zwei Jahre zuvor unter Zugzwang unternommen hatte. Er infizierte zunächst den achtjährigen Sohn seines Gärtners mit Kuhpocken und variolierte ihn einen Monat später mit menschlichen Pocken. Das Kind zeigte keine Symptome einer Pockenerkrankung.
Nun ging Jenner jedoch einen Schritt weiter und zeigte, dass die Übertagung von Kuhpocken von Mensch zu Mensch ebenso zu einer Immunität führte. Er veröffentlichte diese Studien selbstständig, nachdem die Royal Society sie abgelehnt hatte. Aus dieser historischen Entwicklung stammt auch der Begriff der Vakzination. Er wird von vacca abgeleitet, dem lateinsichen Wort für Kuh.
Siegeszug der Immunisierung
Die Pockenimpfung wird mit Begeisterung aufgenommen, denn das Leid durch die Krankheit ist allgegenwärtig. Zwar kursieren auch damals Verschwörungstheorien, die beispielsweise behaupten, dass man sich durch die Infektion mit Kuhpocken selbst zur Kuh verwandelt. Zu den Kritikern zählte auch Immanuel Kant, der befürchtete, dass den Menschen mit den Kuhpocken auch „tierische Brutalität“ eingeimpft werden könne. Doch die Ausmaße der Epidemie schienen zu weitreichend, als dass diese Theorien großen Anklang gefunden hätten.
Das Prinzip von Jenners Impftechnik, so klug es auch sein mag, lässt sich nicht beliebig auf andere Krankheiten übertragen – setzt es doch voraus, dass es einen eng verwandten Erreger gibt, der für den Menschen ungefährlich ist.
Eine Lösung für dieses Problematik bahnte sich 1879 durch Zufall an, und zwar im Labor von Louis Pasteur, bekannt durch pasteurisierte Milch. Ein Labormitarbeiter vergaß, vor seinem Urlaubsantritt Hühner mit einer Probe der Bakterien zu infizieren, die Geflügelcholera verursachten. Nach seiner Rückkehr verwendete er die inzwischen getrocknete Probe zur Infektion. Obwohl es sein Auftrag war, den Krankheitsverlauf bis zum Tod der Hühner zu verfolgen, konnte er seinem Chef nur von leichten Symptomen berichten. Keins der Tiere starb – sehr ungewöhnlich für diese Krankheit.
Durch dieses unfreiwillige Experiment konnte nun Pasteur schlussfolgern, dass der Kontakt mit Luftsauerstoff die Bakterien abgeschwächt hatte. Vielleicht könnte man einen isolierten Krankheitserreger gezielt abschwächen oder sogar abtöten, um ihn unschädlich zu machen. Eine Infektion würde dann keinen schwerwiegenden Krankheistverlauf nach sich ziehen. Diese Art der Impfung wird auch heute noch praktiziert.
Kühe und Covid
Doch auch diese Technik hat Voraussetzungen, die nicht immer erfüllt werden können. So war es lange nicht möglich, Viren zu isolieren und anzureichern, da sie anders als Bakterien nicht ohne Wirt wachsen und sich fortpflanzen können. Dies sollte sich erst in den 1930ern ändern – einige Jahre zu spät für die Entwicklung einer Impfung gegen die Spanische Grippe, die zwischen 1918 und 1919 mindestens 20 Millionen Menschen das Leben kostete.
Seit diesen Durchbrüchen ist es keineswegs ruhiger geworden. Jedes Jahr gibt es neue Impfungen, verbesserte Versionen von schon genutzten Standardimpfungen und neue Projekte, um Krankheiten einzudämmen oder gar zu eliminieren. Der schnelle Erfolg der Covid-19-Impfung beruht auf jahrhundertelanger Forschung, die keinesfalls an ihrem Ende steht, fehlt es doch an Vakzinen gegen AIDS, Malaria oder Borreliose. Im besten Fall müssen wir nur dann über solch schreckliche Krankheiten nachdenken, wenn wir mal wieder unseren Impfpass suchen. Oder am besten gar nicht mehr, so wie es bei den Pocken der Fall ist, die im Jahr 1978 vollständig eliminiert wurden.
Von Zarah Janda
Zarah Janda studiert Molecular and Cellular Biology und ist seit dem Wintersemester 2020/21 beim ruprecht dabei. Am liebsten schreibt sie über Wissenschaft im Alltag.