Mit 16 schrieb er dem damaligen Innenminister einen Beschwerdebrief, weil es ihn so sehr ärgerte, noch nicht wählen zu können. Heute, acht Jahre später, kandidiert er selbst bei den bevorstehenden Landtagswahlen für den Wahlkreis Heidelberg. Der jüngere Benjamin Brandstetter hätte es wohl „lustig und ein wenig seltsam“ gefunden, sein Gesicht auf Wahlplakaten überall in der Stadt zu sehen. Dem heutigen Benjamin geht es nicht anders. Zu dem ungewohnten Gefühl mischt sich jedoch auch ein wenig Stolz, es bis hier hin geschafft zu haben.
Wie ihn die „heute-Show“ von der FDP überzeugte
Seit 2013 ist der 24-Jährige nun schon Mitglied bei der FDP. Seitdem hat er sich als Kreisvorsitzender der Jungen Liberalen und Landesvorsitzender der Liberalen Schwulen und Lesben in Baden-Württemberg hochgearbeitet. Zudem ist er seit seinem Umzug nach Handschuhsheim Mitglied des dortigen Bezirksbeirats.
Politisch aktiv wurde er schon als Jugendlicher. „Auf dem Schulweg habe ich mich immer gefragt, wieso unser Rathaus in Haßloch so schön renoviert und meine Schule dagegen so heruntergekommen aussah“, sagt Benjamin. Noch heute findet er, dass dies „definitiv eine falsche Prioritätensetzung“ war. Bildung ist seitdem eines seiner Kernthemen.
Als Kind einer Einwandererfamilie wisse er, wie wichtig Bildung für den sozialen Aufstieg sei. Dabei ginge es ihm nicht nur um die klassische Schulbildung, sondern auch um diversere, kulturelle Aspekte. Noch heute sei er dankbar für den Klavierunterricht, den er als Kind erhalten habe. „Mein Vater wollte die Klavierstunden erst gar nicht zahlen, weil diese so teuer waren“, erzählt Benjamin. Es sei ihm ein Herzensanliegen, jedem Kind die Chance auf kulturelle Bildung zu ermöglichen. „Aspekte wie Theater- und Musikunterricht müssen viel stärker im Schulsystem betont werden. Beim Lernen eines Musikinstruments wird gleichzeitig die Feinmotorik und die Konzentrationsfähigkeit mitgeschult“, sagt er. Dafür müsse laut Benjamin auch das starre System des Lehramtsstudium modernisiert werden.
Auf die FDP aufmerksam geworden sei er damals durch die „heute-Show“, sagt er und lacht dabei. „Das war ganz sicher nicht die Intention von Oliver Welke“. Die FDP um den damaligen Parteichef Phillip Rößler sei zu der Zeit die Zielscheibe der Satiresendung gewesen. „Gerade wegen all der Witze ist mir die Partei irgendwie sympathisch geworden“, erzählt er. „Die FDP ist mit den Seitenhieben so schön selbstironisch umgegangen.“
Wirtschaftlich, sagt er, hätte er sich bestimmt auch bei der Union wiedergefunden und gesellschaftlich sagen ihm bis heute die Grünen zu. Das Gesamtkonzept jedoch: „Das gibt es nur bei der FDP.“ Gerade als die Liberalen im Jahr 2013 den Einzug in den Bundestag verpassten, bot sich für ihn die Chance, mitzubestimmen, was denn eigentlich Freiheit für die FDP hieße. „Das war eine super spannende Phase der Partei, gerade für Neumitglieder“, sagt er. „Ich habe damals gelernt, wie es ist, um jede Wählerstimme kämpfen zu müssen“.
Zweifel an seiner Partei hätten den 24-Jährigen aber doch letztes Jahr beschlichen, nach der Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten in Thüringen. Diesem wurde vorgeworfen sich gezielt mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. „Diese Wahl muss jeder in der FDP falsch finden, die AfD ist der Hauptgegner der Freiheit“, sagt Benjamin. Vor dem Austritt abgehalten habe ihn die energische Reaktion der Heidelberger FDP, die sofort gegen die Wahl Kemmerichs demonstriert habe, und die klare Distanzierung der Bundesspitze. „Die Wahl Kemmerichs ärgert mich heute noch“, sagt Benjamin. „Ich habe jedoch eingesehen, dass es in jeder Partei ein schwarzes Schaf gibt. Bei der SPD war es bis letztes Jahr Thilo Sarrazin, bei uns ist es Thomas Kemmerich“.
Landtagskandidatur vs. Masterstudium
Statt eines Austritts entschied sich Benjamin dann, als Kandidat der FDP für die diesjährigen Landtagswahlen anzutreten, trotz seines Masterstudiums. „Es ist keine Lösung, abzuwarten, bis es jemand besser kann“, sagt er. „In der Landespolitik kann man so viel bewegen, besonders im Bereich der Bildung“. Allerdings sei ein Wahlkampf auch extrem viel Arbeit und ungemein zeitaufwendig. Studieren kann Benjamin seitdem nur noch reduziert. Trotzdem möchte er unbedingt sein Studium beenden, auch wenn sich sein Master durch seine politische Karriere deutlich in die Länge zieht. Für den Geschichtsstudenten ist es wichtig, neben seinem politischen Engagement auch einen Beruf zu ergreifen. „Politiker war für mich nie ein Berufswunsch, sondern immer schon ein großes Ehrenamt“, sagt er. Immer wieder müsse er seiner Familie und Freunden erklären, dass er für seine politische Arbeit kein Geld bekomme.
Im Moment jedoch seien alle seine Kräfte auf den Wahlkampf gerichtet. In Zeiten von Corona gestaltet dieser sich deutlich anders. Aus Nachmittagen am Wahlkampfstand wurden Stunden vor dem Laptop-Bildschirm. Trotz der ungewohnten Situation ist Benjamin zufrieden mit der Resonanz: „Bei den digitalen Veranstaltungen haben sehr viele Menschen eingeschaltet und ernsthaftes Interesse gezeigt“, sagt er. „Wir leben gerade in einer sehr politisierten Zeit“. Den richtigen Straßenwahlkampf vermisse er jedoch trotzdem: „Online fällt es mir viel schwerer, die Stimmung richtig einzuschätzen.“
Diskriminierung, Hass im Netz und Hakenkreuze auf Autos
Als Gesicht der Partei ist Benjamin aber auch Angriffsfläche für Hass im Netz. Drei Mal habe er schon Anzeige bei der Polizei wegen Beleidigung erstatten müssen. Zudem wurde das Auto seiner Familie mit einem Hakenkreuz besprüht. Benjamin vermutet, dass die Herkunft seiner Eltern Grund für die Schmiererei war. Der Kampf gegen Antisemitismus in Heidelberg ist dem FDP-Kandidat daher auch ein persönliches Anliegen. „Man konnte bei dem antisemitischen Vorfall in der Studentenverbindung „Normannia“ letztes Jahr gut sehen, dass auch hinter den schönen Fassaden Heidelbergs nationalsozialistisches Gedankengut schlummert“, sagt er.
Als Landesvorsitzende der Liberalen Schwulen und Lesben setzt sich Benjamin gegen jede Art von Diskriminierung ein. Als homosexueller Mann kenne er nur zu gut um die Vorurteile und Mikroaggressionen, die in der Gesellschaft vorherrschen. Es mache ihn wütend, dass er kein Blut spenden dürfe ohne ein Jahr abstinent gewesen zu sein. Zusätzlich verletze es ihn, dass das Wort „schwul“ auf den Pausenhöfen immer noch als Beleidigung benutzt wird. Entgegen seinen Kolleg*innen aus anderen Parteien setzt Benjamin jedoch nicht auf vorgeschriebene Quoten, um Minderheiten im politischen Diskurs mehr zu repräsentieren. Stattdessen müsse mehr Aufklärungsarbeit in der Gesellschaft geleistet werden. „Schon in der Schule muss Schüler*innen klar werden, wie divers unsere Gesellschaft ist“, sagt Benjamin. „Im Sexualunterricht wird beispielsweise so gut wie nie über Homosexualität gesprochen“.
Benjamins Zukunftsversion für Heidelberg
Sollte er sein Ziel erreichen und in den Landtag gewählt werden, so will Benjamin als aller erstes das Schulchaos beenden. Es könne nicht sein, dass die Lernplattform „Moodle“ ständig überlastet sei und der Präsenzunterricht nicht richtig vorbereitet werde. „Das Land investiert in der Pandemie in so viele Prestigeprojekte, die sich nicht rentieren“, sagt Benjamin. Es müsse mehr in die Digitalisierung investiert werden, um die Schulen Heidelbergs zukunftsfähig zu gestalten.
Als Student vermisse er die Präsenzlehre, sowie kulturelle Einrichtungen jeglicher Art. Zu einer Öffnung würde es nach Benjamin jedoch erst dann kommen, wenn strikte Hygienekonzepte umgesetzt werden könnten. „Dazu brauchen wir kreative Lösungen“, sagt er. „Wie zum Beispiel die Möglichkeit, ungenutzte Vereinsräume für die Präsenzlehre zu nutzen“. Auch kostenlose Schnelltests seien für Benjamin im Kampf gegen Corona essentiell. „Wie cool wäre es denn, wenn sich jeder Studierende in der Uni kostenlos testen lassen könnte“. Die Heidelberger Polizeipräsenz möchte er ebenfalls erhöhen, um sicherzustellen, dass die Corona-Maßnahmen auch wirklich eingehalten werden. „Keiner soll mehr im ÖPNV ohne Konsequenzen seine Maske abnehmen können und damit andere gefährden“, sagt er.
Weiter möchte der Geschichtsstudent die Wohnungsnot in Heidelberg bekämpfen. Er selbst habe an die 12 Wohnungen besichtigen müssen, bis er seine jetzige Bleibe gefunden habe. Die Ursache des Problems sehe er allerdings im dem zu geringen Angebot. Ansätze wie die sogenannte Mietpreisbremse seien für ihn daher nicht zielführend. „Dann stehen bei einer Besichtigung immer noch 40 Leute auf der Matte, auch bei einer günstigen Wohnung“, sagt Benjamin. Nur durch den Bau von mehr Wohnungen und einer lockereren Bürokratie könne die Wohnungsnot in Heidelberg effektiv bekämpft werden.
Wenn er die letzten Wochen Revue passieren lässt, so blickt Benjamin durchaus positiv in die Zukunft. Er habe im Wahlkampf sehr viel Rückhalt von Freunden, Kommiliton*innen und Lehrenden erhalten. Selbst diejenigen, die sich politisch nicht in der FDP wiederfinden, finden es „ziemlich cool“, dass er als Kandidat antritt. „Baden-Württemberg hat den ältesten Landtag in ganz Deutschland, das muss sich ändern“, sagt Benjamin. Auch unabhängig vom Ausgang des Wahltags möchte er politisch aktiv bleiben. An politischen Visionen mangelt es ihm jedenfalls nicht.
Von Lina Abraham
...hat während der Coronapandemie ihre Liebe zum Schreiben und zum ruprecht entdeckt und war bis zum Ende ihres Studiums in Heidelberg Teil der Redaktion. Sie leitete das Ressort „Seite 1-3“ und erlebte, wie der ruprecht im Jahr 2021 als beste Studierendenzeitung Deutschlands ausgezeichnet wurde. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Recherche über das Unternehmen „Heidelberg Materials“ und dessen Umgang mit Menschenrechten in Togo. Lina ist weiterhin journalistisch aktiv und schreibt für das Onlinemagazin Treffpunkteuropa. Zudem ist sie als Podcast Autorin beim BdV tätig und berichtet über Flucht und Vertreibung in Europa.