Seit einigen Tagen kursiert das Hashtag #notallmen auf Twitter und anderen sozialen Medien. Dahinter steckt eine neue Protestwelle, die auf die mangelnde Sicherheit von Frauen in der Öffentlichkeit aufmerksam machen soll und durch die Entführung und Ermordung der 33-jährigen Britin Sarah Everard ausgelöst wurde.
Zuletzt lebend hat man Sarah in der Nacht vom 3. März gesehen, als sie von der Wohnung einer Freundin im Londoner Stadtteil Clapham nach Hause gehen wollte. Kurz darauf verschwand sie und einige Tage später fand man ihre Leichenteile etwa 60 Kilometer entfernt in einem Wald in Kent. Unter Tatverdacht steht nun der 48-jährige Kommissar Wayne C., der letztes Wochenende dem Haftrichter vorgeführt worden ist.
Dieser Fall hat in der britischen Gesellschaft einen großen Aufschrei über die Sicherheit von Frauen ausgelöst. Am vergangenen Wochenende versammelten sich Tausende von Menschen in mehreren Städten Großbritanniens, um Sarah zu gedenken. Eine Mahnwache im Clapham Common Park sorgte für viel Aufregung, da die Versammlung gewaltsam von der Polizei aufgelöst wurde. Die Organisation “Reclaim These Streets” hatte zu dem Protest aufgerufen, der jedoch von einem Gericht wegen der Corona-Lage im Vorfeld verboten wurde.
Das polizeiliche Vorgehen wurde umgehend von der Politik und Öffentlichkeit kritisiert und zeigt die perverse Ironie der Situation auf. Eine Frau wurde mutmaßlich von einem Polizisten entführt und ermordet, daraufhin wollten Angehörige und Betroffene trauern und sich solidarisch zeigen, werden aber wiederum von den Polizeikräften daran gehindert.
In den sozialen Medien wird vermehrt darauf hingewiesen, dass der Fall von Sarah kein Einzelfall ist, allenfalls ein besonders tragischer. Die meisten Frauen sind für den Fall abends allein nach Hause zu gehen „bestens“ vorbereitet: möglichst keine hohen Schuhe tragen, um schnell weglaufen zu können. Die Schlüssel in der Hand bereit, um sie als potentielle Verteidigungswaffe einsetzen zu können. Manche rufen eine Freundin an und reden mit ihr, bis man zu Hause angekommen ist. In der Regel sind es Frauen, die ihr Verhalten anpassen müssen, um nachts für ihre Sicherheit zu sorgen. Viele Männer haben in ihrem Leben noch nie über solche Vorkehrungen nachgedacht.
Auch Sarah befolgte einige dieser Methoden. Beispielsweise telefonierte sie in der besagten Nacht der Entführung auf dem Weg nach Hause mit ihrem Freund. Eigentlich sollte sie dadurch sicher sein. Doch darum geht es überhaupt nicht – erstens schützen solche Maßnahmen sowieso nicht genug und zweitens lenken sie vom eigentlichen Problem ab. Es geht nicht darum, was Sarah für Klamotten trug oder wo sie langging oder ob sie ein Pfefferspray mit sich führte. Es geht darum, dass sie nachts in der Öffentlichkeit nicht sicher nach Hause gehen konnte und dass ihr mutmaßlicher Entführer und Mörder ein Mann war. Natürlich sind nicht alle Männer aufgrund ihres Geschlechts automatisch Gewaltverbrecher. Aber fast alle Täter von Gewaltverbrechen an Frauen sind Männer.
Genau diese Thematik wird unter #notallmen zusammengefasst und diskutiert, weil die Gesellschaft begreifen muss, dass hier ein strukturelles Problem vorliegt, auch in Deutschland. Eine Studie des Bundesamts für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 2005 hat ergeben, dass zwei von drei Frauen in Deutschland sexuelle Gewalt erleben. Einige Männer fühlen sich durch die Debatte auf den Schlips getreten. Manche distanzieren sich ganz von der Konversation und denken vielleicht: „Ich verstehe nicht, was ich damit zu tun habe, denn ich habe noch nie eine Frau sexuell belästigt.“ Wirklich? Es geht nicht darum, alle unter Generalverdacht zu stellen, sondern darum, dass viele Frauen sich zwangsläufig dazu genötigt fühlen, weil sie Angst um ihre Sicherheit haben.
Was also können Männer in der Debatte und der Frage um die Sicherheit von Frauen tun? Zuhören. Mit Frauen offen darüber sprechen und ihnen im Zweifelsfall anbieten, sie nach Hause zu begleiten. Sich weiterbilden und anfangen, ihr Verhalten zu reflektieren.
Es ist an der Zeit, dass auch Männer ihr Verhalten ändern, um öffentliche Plätze für alle sicherer zu machen.
Von Lena Rottinger
Lena Rottinger studiert Economics und Politikwissenschaft und schreibt seit dem Wintersemester 2020/21 für den ruprecht. Sie interessiert sich vor allem für gesellschaftliche Themen, internationale Politik und kritische Ökonomie.
„Zwei von drei Frauen in Deutschland (also rund 66%) erleben sexuelle Gewalt“ – bei dieser Aussage bin ich wirklich erschrocken. Beim Nachrecherchieren in der, dankenswerter Weise verlinkten Studie habe ich diese Aussage nicht bestätigt finden können. Stattdessen liegen die Werte bei 12-16% nach enger (also strafrechtlich relevanter) Definition und 34% nach einer breiteren Definition. (Kurzfassung S. 7, Langfassung Teil 1 S. 64-73). Das deckt sich mit einer Internetrecherche („sexuelle Gewalt Deutschland“ auf DuckDuckGo), wobei diese Werte wohl auch alle aus der bereits erwähnten Studie stammen. Näher an dem, im Artikel genannten Wert liegt der zur sexuellen Belästigung (58%), wobei dieser abseits der Kategorien sexueller Belästigung über Telefon/Email/Brief und Nachpfeifen/obszönen Bemerkungen/Anstarren bei den schwerwiegenderen Kategorien auch bei maximal einem Drittel liegt (Kurzfassung S. 7, Langfassung Teil 1 S. 90-104) . Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Wert (69,3%) der Tabelle 28: Viktimisierung durch sexuelle Gewalt (Langfassung Teil 1 S. 72) entnommen ist, die sich (als Folgefrage) jedoch nur auf die bereits erwähnten 12-16% bezieht. Man kann also im Hinblick auf das anfängliche Artikel-Zitat „nur“ von „einer von drei“ Frauen sprechen.
Mit diesem Kommentar möchte ich weder die Relevanz der angesprochenen Problematik relativieren (traurige Aktualität hat das Thema ja auch durch die Aufkündigung der Istanbul-Konvention durch die Türkei und der daraus folgenden Proteste erhalten), noch die generelle Schreibart des Artikels kritisieren, den ich ansonsten für sehr gelungen halte (insbesondere für ein – wenn ich das recht sehe– journalistisches Debüt), sondern lediglich auf die Notwendigkeit einer faktischen Korrektur hinweisen und das sorgfältige Lesen der Quellen anmahnen.