In „7 Tage“ geht es in erster Linie um Erfahrung alltagsfremder Situationen. Das Ausbrechen aus der Monotonie soll zu neuer Erkenntnis über das Ich führen. Ich will mich selbst gar nicht näher kennenlernen. Die letzten 14 Monate waren mir genügend Zeit mit mir selbst. Ich will stattdessen die Anderen kennenlernen. Genauer, ich will einen ganz bestimmten Schlag Mensch kennenlernen: Max Giesinger Hörer*innen. Warum nur sind sie bereit, sich mit austauschbaren 08/15-Texten beschallen zu lassen, garniert mit Pseudo-Rockgitarren und den fürchterlichsten Uhuhuh-Chören der Menschheitsgeschichte? Was fühlen sie bei Zeilen der Sorte „Spielst du gelegentlich Roulette mit mir/ ich bin der Einsatz den du gern riskierst“?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, werde ich die nächsten sieben Tage jeden Tag ein Max Giesinger-Album hören. Also sowohl Studio- als auch Live-Alben. Eine ganze Woche in den Fingern von Deutschlands am besten geölter Radiohitmaschine. Am Ende weiß ich hoffentlich, warum er so verdammt erfolgreich ist.
Ich würde gerne kotzen, wenn Giesinger „Kotzen“ singt.
Tag 1. Debütalbum. „Laufen Lernen“. Ganz netter Titel. Furchtbare Musik. Hier ist nicht einmal die Produktion auf akzeptablem Niveau. Ich will schon jetzt nicht mehr. Bei „Kalifornien“ habe ich weder Fernweh noch sonst ein Gefühl. Ich bin schon jetzt nervlich am Ende und gerade mit dem ersten Giesinger-Song fertig. Das wird schlimm. Ich würde gerne kotzen, wenn Giesinger „Kotzen“ singt. Kein Scheiß, handgezählte fünfzig Mal singt Max das hässlichste Wort der deutschen Sprache. Das einzige Wort das so klingt, wie die Erfahrung, die es beschreibt. Aber hey, morgen singt er live.
Tag 2. Die Live-Version ist noch einmal schlechter. War zu erwarten. Wann war irgendwas in Karlsruhe schonmal geil? Nie, nie, nie! Meine Jugend in Karlsruhe ist das langweiligste, das ihr euch vorstellen könnt. Schales Bier in charakterlosen Kneipen, die um zwölf Uhr schließen und danach lauwarmer Weißwein im überfüllten Schloßgarten. Kein Wunder, dass Max immer nur rennen will. Irgendwo anders hin will. Das Gefühl kann ich nachvollziehen. Kommt daher seine Beliebtheit? Fühlt sich einfach ganz Karlsruhe angesprochen? Die Stadt, die mit dem Bundesverfassungsgericht anfängt und auch wieder aufhören sollte. Dort, wo im Club immer noch die Chainsmokers als das nächste große Ding gelten.
Gestern habe ich meiner Freundin gesagt, ich liebe sie wie einen Frühlingstag.
Nee, auch Leute außerhalb Karlsruhe hören Giesinger, das passt nicht. Also Tag 3, „Der Junge, Der Rennt“. Ihr wisst schon, die mit „80 Millionen“. Ich merke an mir selbst schon Veränderungen. Gestern habe ich meiner Freundin gesagt, ich liebe sie wie einen Frühlingstag. Das ist meine emotionale Reichweite inzwischen. Ich hab auch schon Freund*innen unter El Hotzo-Posts markiert und dazu geschrieben „So wir *Lachsmiley*“. Bro, it’s like I’m straight up not having a good time!!! Ich hab gestern auch Facebookseiten mit motivierenden Sprüchen angeschaut. Ich hab doch gar keinen Facebook-Account. Wie hab ich das geschafft? Habe ich inzwischen Superkräfte? Mein Bart ist inzwischen auch gepflegter? Wie? Meine Haare sehen aus wie eine Kombination aus einsetzender Halbglatze und Justin Bieber-Tribute. Ich kann mich nicht erinnern, sie geschnitten zu haben. Ich verliere den Verstand — langsam aber sicher.
Ich bin wieder 3 Jahre alt und weine im Wohnzimmer meiner Großeltern.
Ich muss hier raus. So weit wie möglich. Nein, das sagt Max Giesinger auch immer. Der will nach Australien oder so. Oder Saufurlaub mit den Jungs auf Malle. Corona hält mich in Deutschland gefangen, ich fahre zu meine Eltern. Moment, ich habe diese Musik nicht angemacht. Wollte ich nicht die neue St. Vincent-Platte hören? Warum presst Max Giesinger weiterhin vage Sätze über Liebe oder Leben oder Wanderrucksäcke aus seinem Bart? Ich reiße die Kopfhörer von mir, warum höre ich immer noch einen Uhuhuh-Chor? Der Mann neben mir, ist er Max? Ich frage ihn, neben mir sitzt niemand. Ich kann nicht mehr atmen, ich bin wieder 3 Jahre alt und weine im Wohnzimmer meiner Großeltern. Jetzt bin ich 14 und trinke mein erstes Bier. Ich stehe auf der Bühne eines Stadtfests und singe „Wenn sie tanzt, ist sie woanders“. Ich blicke an mir herab, ich bin eine alleinerziehende Mutter.
Plötzlich bin ich in Australien, Bon Iver singen von quietschenden Reifen und irgendeinem Sommer. Jede Person um mich herum heißt Maria oder Patrick. Ich blicke an mir herab, meine eigenen Hände sind mit fremd. Ich renne nach einem Spiegel, ich betrachte meine makellosen Zähne, ich beginne zu sprechen. Ich höre nur einen Kauderwelsch aus Badisch, Norddeutsch und Wandtattoos. An meinem Oberkörper klebt ein KSC-Trikot, die Welt ist in Til Schweiger-Sepiatönen ertränkt. Über meinem KSC-Trikot lungert ein Wohlfühlen™-Cardigan. In meinen Händen lungert ein ungestimmte Akustikgitarre. Vorbei ist die Zeit meiner Selbst, ich weiß nun dass „Irgendwann jetzt ist“. Ich bin angekommen am Ziel meiner Reise. Ich bin Max Giesinger.
von Hannes Huß
Hannes Huß studiert Politikwissenschaft und Soziologie. Seit dem Sommersemester 2021 schreibt er für den Ruprecht über Popkultur, Kultur im Allgemeinen und alles, was sonst noch in der Welt passiert.