Heute wissen wir, dass die Pocken eine sehr gefährliche Krankheit ist und falls nicht, können wir das mit wenigen Klicks herausfinden. Aber wie war das 1958, in einer Zeit vor dem Internet? Was wusste die Bevölkerung über die Pocken?
1958 waren die Pocken schon wieder ein bisschen in Vergessenheit geraten. Es gab seit dem Ende des 19. Jahrhunderst eine Pflichtimpfung für Pocken, und durch diese Pflichtimpfung konnten die Pocken zumindest in Europa ganz gut zurückgedrängt werden. In Deutschland hatte man eigentlich kaum noch Erinnerungen an sie.
Sie haben es ja eben bereits angesprochen: In Deutschland galt bis in die Mitte der 70er Jahre, also bis zur völligen Eliminierung der Pocken, eine Impfpflicht. Wie wurde diese in der Bevölkerung aufgenommen, und vor allem: Wie wurde sie durchgesetzt?
Die Impfpflicht wurde 1874 mit einer sehr knappen Merhheit im Reichstag beschlossen. Es gab damals schon eine große Zahl von Impfgegnern, aus dem sozialdemokratischen Millieu, die der Naturheilbewegung nahe standen, aber auch aus dem konservativen Millieu. Das zog sich also durch die gesamte Gesellschaft, so wie heute auch. Impfgegner heute repräsentieren ja auch ein breites politisches Spektrum.
Die Impfpflicht wurde primär dadurch durchgesetzt, dass nur geimpfte Kinder eingeschult werden durften. Es gab aber auch viele dezentrale Impfstationen, das erinnert ein bisschen an die heutigen Impfzentren. Außerdem gab es im 20. Jahrhundert auch noch die „Schulärzte“. Diese besuchten regelmäßig die Schulen, untersuchten dort die Schüler und kontrollierten auch den Impfschutz.
„Massive Impfschäden befürchtet“
Denken Sie denn, dass die Pocken auch ohne Impfpflicht hätten ausgerottet werden können?
Das Interessante ist ja, dass der Pockenausbruch in Heidelberg gezeigt hat, dass auch Menschen erkrankten, die als Kind geimpft worden waren. Es stellte sich damals heraus, dass der Impfschutz nicht so lange hielt, wie man dachte. Allerdings muss man sagen, dass der Verlauf der Erkrankungen bei denjenigen, die als Kind geimpft worden waren, nicht so gefährlich war wie bei den Ungeimpften.
Um nochmal auf die Impskeptiker/Impfgegner zurückzukommen: Heute sieht man ja öfter Menschen, die Corona als „Grippe“ abtun. Gab es damals auch Menschen, die die Pocken als „Ausschlag“ verharmlosten?
Die Argumentationen waren auf jeden Fall unterschiedlich. Als die Impfpflicht eingeführt wurde, gab es zum Beispiel religiöse Argumente, die besagten, dass die Erkrankung Gottes Wille sei und man Gott nicht ins Handwerk pfuschen solle.
Unabhängig von der Religion wurde argumentiert, dass die Impfung schädlicher sei als die Erkrankung selbst. Man fürchtete, dass der ganze Organismus des Kindes durcheinandergebracht würde und die Kinder massive Impfschäden erleiden würden.
Das war allerdings auch nicht so ganz von der Hand zu weisen, zumindest zu Beginn der Impfeinführung. Im frühen 19. Jahrhundert hat man die Kinder mit Kuhlympfe geimpft, also Kuhpockensekret. Als dann die Pflichtimpfung eingefügt wurde, beispielsweise in Bayern 1806, hatte man nicht genug Impfstoff und hat die Methode des „Überimpfens“ praktiziert. Dabei sticht man die Impfpustel eines Kindes auf und überträgt das Sekret auf das nächste. Damit hat man aber auch gefährliche Krankheiten übergeimpft, beispielsweise Syphilis. Dadurch erkrankten vorher völlig gesunde Kinder an gefährlichen Krankheiten. Das hat natürlich zu einer großen Impfskepsis geführt und hat bei Impfgegnern für Bestätigung gesorgt.
Impfgegner haben damals auch schon Bücher publiziert, in denen Impfschäden dokumentiert wurden. Aber eben auch Erkrankungen, die wahrscheinlich zufällig nach der Impfung aufgetreten sind, dann aber als Impfschäden dargestellt wurden. Die Bücher waren auch mit drastischen Fotografien versehen. Es gab also bereits im 19. Jahrhundert solche Publikationen, die eine ziemlich weite Verbreitung hatten.
„Klinik völlig unvorbereitet“
Wie hat die Medizin damals auf die berechtigten Bedenken reagiert?
Als Reaktion auf die Impfskeptiker kann man hauptsächlich ein intensiviertes Bemühen identifizieren, den Impfstoff synthetisch herzustellen, um mehr Impfstoff zur Verfügung zu haben und nicht mehr das Überimpfen praktizieren zu müssen.
Inwiefern waren die Stadt Heidelberg oder das Klinikum auf einen Pockenausbruch vorbereitet? Gab es ein Depot mit Pockenimpfstoff, Schutzkleidung oder medizinischen Masken?
Tatsächlich hat der Ausbruch damals die Klinik völlig unvorbereitet getroffen. Es wurden nicht einmal die in den Pandemieplänen üblichen Vorgehensweisen eingehalten. Das sind natürlich typische Mechanismen: Man versucht erst einmal, so einen Fall hausintern zu regeln, möglichst ohne Aufsehen. Dieser Versuch hat dann allerdings dazu geführt, dass die Pocken sich ungehindert ausbreiten konnten.
Das erste Problem war, dass man die Erkrankung bei dem Arzt, Dr. Krump, der aus einem Indienurlaub zurückkam und leichte Symptome einer Pockenerkrankung zeigte, nicht als solche erkannte. Und zwar weder er selbst noch seine Kollegen. So konnte er noch eine ganze Weile Menschen anstecken.
In zeitgenössischen Publikationen aus den 50ern wird beklagt, dass die Pocken nur noch im in Veranstaltungen zur Medizingeschichte erklärt wurden und nicht in der Ausbildung der Mediziner behandelt wurden. Dadurch waren sie also auch nicht im Stande, sofort auf diese Krankheit zu reagieren.
Er hat sich wohl dann bei dem Dermatologen Dr. Schönfeld, der auch Medizinhistoriker war und und sich für die Gründung des Instituts für Geschichte der Medizin eingesetzt hat, untersuchen lassen, der diese dann vermutlich als solche erkannte. Ein Missverständnis zwischen den beiden hat dann aber dazu geführt, dass er die Differenzialdiagnose Syphilis oder Windpocken in Betracht zog, denn er fragte Herrn Krump nach seinem Urlaubsort und verstand „Zypern“ statt „Ceylon“ (Anm. d. Red.: das heutige Sri Lanka). Er empfahl ihm dennoch, sich in Qurantäne zu begeben, was dieser daraufhin auch tat.
Man hatte in Heidelberg auch durchaus genügend Impfstoff, und in dem Moment, als man sicher war, dass es sich um Pocken handelt, wurde sofort angefangen zu impfen – aber das alles mit etlichen Tagen Verzögerung.
Glauben Sie, dass das durch bessere Strukturen hätte verhindert werden können?
Im Grunde wussten die Ärzte ja, dass sie eine solche gefährliche Infektionskrankheit beim Gesundheitsamt melden mussten. Sie haben es bloß dennoch am Anfang nicht gemacht. Das ist dieser Verharmlosungsmechanismus, den man das bei fast jedem Epidemieausbruch findet. In diesem Fall hatte das aber die Konsequenz, dass Menschen verstorben sind.
Krump hätte mit Krankheitssymptomen eigentlich gar nicht zur Arbeit kommen dürfen. Deswegen wurde er auch wegen fahrlässiger Körperverletzung zu vier Wochen Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 1000 Deutscher Mark verurteilt. Zusätzlich wurde ihm seine bereits laufende Habilitation verwehrt. Es wurde also vom Gericht durchaus auch als fahrlässiges Verhalten betrachtet.
Bleiben wir mal bei dem Gerichtsurteil, dass 1962 gegen Krump wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in 16 Fällen gefällt wurde: Inwiefern hatte es Einfluss auf das Verständnis von Infektionskrankheiten? Vermittelte dieses Urteil Ihrer Meinung nach den Eindruck, dass man als Individuum für die Übertragung von Infektionskrankheiten haftbar gemacht werden kann, oder begründete es sich rein auf Krumps Tätigkeit als Arzt?
Die Urteilsbegründung kenne ich nicht, aber ich denke, dass dieses sehr harte Urteil daher rührt, dass er es als Arzt besser hätte wissen müssen, gleichgültig, um welche Krankheit es sich handelt. Die erste Nachlässigkeit war schon, dass er sich vor seinem Urlaub nicht hat impfen lassen, obwohl ihm Kollegen das empfohlen hatten. Er wollte das nicht, weil die Pockenimpfung wohl auch starke Nebenwirkungen hatte und er sich den Urlaub nicht verderben lassen wollte.
Die zweite Nachlässigkeit war dann, als er auf dem Rückflug Symptome ausbildete, diese nicht ernstnahm und zur Arbeit ging. Als Arzt hätte er dazu im Stande sein müssen, die Pockeninfektion zu erkennen, und er hätte Vorsicht walten lassen müssen.
Wissen Sie, ob es bei anderen Pockenausbrüchen ähnliche Urteile gab?
Dazu habe ich keine Informationen gefunden. Ich glaube aber, der Heidelberger Fall ist ziemlich singulär und hatte auch eine Signalwirkung. Es brach ja danach eine regelrechte Pockenangst aus. Das, was vorher zu wenig passiert war, passierte dann zu viel. Beispielsweise wurde kurz danach in Bruchsal ein Taxifahrer, der die Windpocken hatte, im Krankenhaus direkt isoliert, aus Angst, dass es einen erneute Pockenausbruch gäbe. Daran sieht man, dass eine gewisse Reaktion auf den Heidelberger Pockenfall vorhanden war. Vorher gab es keinen solchen Fall, der derartig in der Öffentlichkeit behandelt wurde.
Ich bin mir aber relativ sicher, dass man Laien nicht so hart verurteilt hätte, weil man ihnen eben doch zu Gute hält, dass sie eine solche Gefahr vielleicht nicht so gut einschätzen können.
„Angst vor der Krankheit starker Motivator“
Inwiefern können Sie sich erklären, dass die Pocken für deutsche Ärzte so in Vergessenheit geraten sind, obwohl sie anderswo auf der Welt ja durchaus noch im Gange waren?
Das ist heute ja auch noch zu beobachten, dass Krankheiten, die bei uns nicht mehr vorkommen, in der medizinischen Ausbildung in den Hintergrund geraten, und dass den Studenten auch einfach die Praxis fehlt.
Damals wie heute gab es Tropeninstitute, die es auch erkannt hätten. Aber in allgemeinen Krankenhäusern sind solche Einzelfälle schwer zu diagnostizieren, einfach weil die Ärzte die Krankheit selten zu Gesicht bekommen. Das ist heute also auch nicht anders.
Würden sie denn den Pockenausbruch als „kleine“ Epidemie bezeichnen?
Ja, durchaus, immerhin musste das gesamte Krankenhaus unter Quarantäne gestellt werden, und die Pocken hatten sich schon auch über Heidelberg hinaus verbreitet. Beispielsweise hat sich ein Barbesitzer aus Kaiserslautern infiziert, weil er bei einer Untersuchung in der Klinik an Dr. Krump vorbeigegangen ist und sich im Vorübergehen infiziert hat. Daran sieht man auch, wie ansteckend diese Krankheit war. Er hat dann noch zwei weitere Personen angesteckt. Auch die Putzfrau von Krump hat sich angesteckt, weil sie seine Wäsche gewaschen hat. Und auch sie hat in ihrem Umfeld weitere angesteckt.
Nach dem Ausbruch ließen sich innerhalb weniger Tage 26 000 Heidelberger gegen die Pocken schutzimpfen. Brauchte es dazu gewisse Überredung oder war die Impfbereitschaft in diesen Tagen durch die unmittelbare Nähe der Pocken gestiegen?
Die Einzelheiten der Impfkampagne sind mir zwar nicht bekannt, aber allein die Zahl von 26 000 Menschen zeigt ja, dass die Angst vor der Ansteckung recht groß war und die Menschen zur Impfung bewegt hat. Das kann man ja auch bei der Covid-Pandemie beobachten. Ich denke, die Angst vor der Krankheit ist doch ein starker Motivator.
Nachdem der Pockenausbruch überstanden war, beklagte sich der damalige Oberbürgermeister über die unsachgemäße Berichterstattung in den Medien, die die Situation verdreht dargestellt hätten. Wie beurteilen Sie die Rolle der Medien? Wurde die Situation in Heidelberg als Aufhänger für Schlagzeilen ausgenutzt oder formulierten sie berechtigte Ängste?
Dieses Beklagen über die Medien findet man auch in einer Akte im Universitätsarchiv, mit der man die interne Behandlung dieses Ausbruchs nachvollziehen kann. Die Berichterstattung sei skandalisierend gewesen und es sei ja nur ein Mensch daran gestorben, dabei waren es meines Wissens zwei. Und allein eine Person ist ja schon dramatisch, besonders wenn man bedenkt, dass es zu den Zeiten ja bereits einen Impfschutz gab. Das ist diese typische Verschiebung der Perspektive einer Institution, die um ihren Ruf fürchtet.
Der Bürgermeister hatte Angst um den Tourismus in Heidelberg, der Ausbruch hatte wohl auch spürbare Konsequenzen. Was ja auch eine erklärbare menschliche Reaktion ist, dass man aus Angst von einer solchen Infektion eine Reise nach Heidelberg noch einmal überdenkt. Sicherlich ist es so, dass die Medien die Lage etwas zugespitzt dargestellt haben. Es ging natürlich auch darum, die Unzulänglichkeiten der Klinik offenzulegen. Das hat den Verantwortlichen nicht so gefallen, für das Vertrauen in die Klinik war es natürlich alles andere als gut.
Aber man muss eben auch sagen, dass viele Fehler passiert sind. Selbst nach der Identifizierung der Pocken wurde die Quarantäne, die über Weihnachten verhängt wurde, nicht konsequent überprüft. Bücher und Lebensmittel wurden durch die Fenster gereicht und damit ja auch wiederum hochinfektiöses Material, beispielsweise Hautschuppen. Das ist natürlich nicht schön, wenn man da den Spiegel vorgehalten bekommt.
Hat die Klinik direkte Auswirkungen zu spüren bekommen?
Das weiß ich nicht so genau, aber ich würde davon ausgehen, dass Menschen erstmal Abstand von der Klinik genommen haben und sich dort nicht untersuchen ließen. Man hat das ja auch bei der ersten Covid-Welle bei den Heidelberger Kliniken gesehen, als diese hohe Verluste gemacht haben. Nicht, weil sie Betten freigehalten haben, sondern weil viele Patienten die Klinik aus Angst gemieden haben. Angst vor einer Ansteckung und Angst davor, unnötige Arbeit zu verursachen. Ein ähnliches Phänomen wird man in der Ludolf-Krehl-Klinik auch bemerkt haben.
„Zunächst sehr hilflos“
Welche Konsequenzen wurden denn langfristig aus dem Pockenausbruch gezogen? Gab oder gibt es eine Impfplicht für Ärzte in Heidelberger Kliniken?
Als direkte Konsequenz wurde eine impfpflicht erlassen für Reisende in Länder, in denen die Pocken noch verbreitet waren. Das heißt, Dr. Krump hätte beispielsweise nicht nach Indien reisen dürfen ohne aufgefrischten Impfschutz. Die ganzen Maßnahmen im Umgang mit Infektionskrankheiten gab es durchaus damals schon, das war nicht das Problem. Es gab schon Typhusepidemien und auch den täglichen Umgang mit Patienten mit offener Tuberkulose, die zu dieser Zeit noch recht verbreitet war, hatten sie ganz gut im Griff. Es gab eine sehr gut funktionierende Abteilung für infektiöse Krankheiten in der Klinik.
Das Problem war klar, dass man die Krankheit nicht erkannt hatte und die Kranken isolieren konnte – und dass, als der erste leise Verdacht auf Pocken aufkam, die Sache erstmal runtergespielt wurde und man versuchte, alles ohne Aufsehen zu regeln. Aber das ist eben am Ende auch nur eine menschliche Eigenschaft.
Und wie sieht es heute mit einer Impfpflicht für Ärzte aus?
Die gibt es, sogar wir in den theoretischen Instituten müssen auch beispielsweise einen Masernschutz nachweisen.
Glauben Sie, dass so etwas nochmal passieren könnte? Mit beispielsweise den Masern?
Ehrlich gesagt: Wir haben ja durch Covid gesehen, dass wir zunächst mal sehr hilflos waren und auch hilflos damit umgegangen sind. Wir waren das ja auch gar nicht mehr gewöhnt, als immunisierte Gesellschaft, dass Epidemien und Pandemien auch uns betreffen können, nicht nur Dritte-Welt- und Schwellenländer. Deshalb waren die Krankenhäuser völlig unvorbereitet, es gab nicht genügend Schutzkleidung oder Mundschutz, das Pflegepersonal steckte sich an. Da sieht man, dass, obwohl es Pandemiepläne gab, die Schutzmaßnahmen, wie Schutzkleidung zu lagern, nicht befolgt wurden und man dann dementsprechend hilflos dastand.
Man kann hoffen, dass es in Zukunft nicht mehr passiert, aber ich bin zumindest skeptisch, da die Pandemie nach ihrem Ende dann doch recht schnell wieder aus den Köpfen ist und wieder das Gefühl einer immunisierten Gesellschaft eintritt. Auf der anderen Seite wird von diversen Experten darauf hingewiesen, dass Zoonosen in der Zukunft häufiger auftreten werden.Es kann also auch sein, dass diese lange Zeit, in der europäische Gesellschaften weitgehend frei von Epidemien waren, vorbei ist.
Sehen Sie Ansätze, um sich in Zukunft nun besser vorzubereiten?
Ein Ansatz ist, dass man beginnt, diese Schutzkleidung in Deutschland herzustellen, um sich nicht abhängig von Lieferketten zu machen. Man hat da erkannt, dass man sehr verletzlich ist, wenn man sich auf die Produktion in außereuropäischen Ländern verlässt. Das Gleiche gilt für Desinfektionsmittel. Ich denke auch, dass man gelernt hat, dass man Maßnahmen wie die Maskenpflicht oder andere Hygienemaßnahmen wie das Händewaschen, die eigentlich größtenteils etwas Selbstverständliches waren im Zeitalter der präsenten Infektionskrankheiten, schneller durchsetzt.
Diese Hygienemaßnahmen, die man im Kontext der Tuberkulosebekämpfung schon im 20. Jahrhundert durchgeführt hatte und die in Vergessenheit geraten sind. Durch dieses Reaktivieren der altbekannten Maßnahmen konnte man in diesem Winter ja auch einen Rückgang anderer Infektionskrankheiten, wie beispielsweise der gewöhnlichen Grippe, beobachten.
Für die Pockenimpfung gab es kein Patent. Glauben Sie, dass das einen signifikanten Einfluss darauf hatte, dass diese Krankheit ausgerottet werden konnte?
Das hatte natürlich einen großen Einfluss. Wenn jedes Land Impfstoff produzieren kann, ist es natürlich sehr viel einfacher, Länder zu versorgen, als wenn diese ihn einkaufen müssen und die Pharmakonzerne dieses Patent innehaben. Das sieht man ja auch zurzeit, dass dies für weniger wohlhabende Länder ein Problem ist.
„Die Impfung war sehr bedeutend für die Entwicklung der akademischen Medizin“
Würden Sie die Impfung als die größte medizinische Errungenschaft der Menschheit bezeichnen?
Mit Superlativen bin ich immer vorsichtig, es gibt ja schon viele Beispiele für medizinische Errungenschaften, beispielsweise die Entdeckung des Antibiotikums. Aber auch der zunehmende Wohlstand spielt eine große Rolle. Man kann beobachten, dass wohlhabende Länder weniger von Infektionskrankheiten betroffen sind als weniger wohlhabende Länder. Und das liegt nicht nur an der medizinischen Versorgung sondern auch an Lebens- und Arbeitsbedingungen und der Ernährung. Man sieht es jetzt ja auch in Indien, welche Auswirkungen es hat, wenn ein Land nicht genug Infrastruktur hat und die Lebensverhältnisse die Verbreitung einer Infektionskrankheiten begünstigen.
Auf dem Land war die Impfung mit dem Kuhpockensekret bereits eine übliche Praxis, es war also nicht allein die Erkenntnis der Mediziner, sondern laienmedizinisches Wissen. Es ist aber ganz sicherlich so, dass die Impfung den Stellenwert der Schulmedizin in der Bevölkerung stark erhöht hat. Noch im 18. Jarhundert waren akademische Ärzte nicht die erste Wahl. Der medizinische Markt war sehr viel differenzierter. Die Impfung als Methode hat sicher dazu beigetragen, dass Ärzte sich durchsetzen konnten.
Dies lag aber nicht nur an der Impfung selbst, die im Übrigen nur von Ärzten und Pastoren durchgeführt werden durfte, sondern vor allem an der Impfpflicht. Dadurch kam die breite Bevölkerung in Kontakt mit den akademischen Ärzten, und so hat die Impfung dazu beigetragen, dass die Schulmedizin, wie wir sie heute kennen, sich durchgesetzt hat. Insofern war die Impfung natürlich sehr bedeutend für die Entwicklung der akademischen Medizin.
Was sind Ihrer Meinung nach konkrete Lehren, die man aus dem Heidelberger Pockenausbruch ziehen konnte?
Auf jeden Fall die Impfung für Fernreisende. Heute ist es ja Standard, dass man sich über Krankheiten in Ländern erkundigt, bevor man diese bereist. Und eben auch, gegen welche Krankheiten man sich impfen lassen kann. Ich denke also, dass es auf jeden Fall ein Bewusstsein dafür geschaffen hat, dass man sich durch Urlaubsreisen anstecken und diese Krankheiten dann zuhause auch verbreiten kann. Der Heidelberger Ausbruch war der erste spektakuläre Fall in diesem Zusammenhang.
Das Gespräch führte Zarah Janda.
Zarah Janda studiert Molecular and Cellular Biology und ist seit dem Wintersemester 2020/21 beim ruprecht dabei. Am liebsten schreibt sie über Wissenschaft im Alltag.