Ein gigantischer Teilchenbeschleuniger mit Riesenmagnet hat eine winzige Abweichung an einem winzigen Teilchen gemessen. Die Physiker recken neugierig ihre Hälse, reden von besonderen Ergebnissen. Was ist denn da los in der kleinen Welt der Teilchenphysik?
Johanna Stachel, Professorin für Teilchenphysik an der Uni Heidelberg, erzählt von dem jahrzehntelangen Hintergrund dieses Ergebnisses. Am Teilchenbeschleuniger Fermilab im US-Bundesstaat Illinois würde zurzeit ein Experiment fortgesetzt, das ursprünglich vor 20 Jahren im Brookhaven National Laboratory durchgeführt worden sei. Dabei wurde eine Abweichung des sogenannten Myon g-Faktors um 3,6 Standardabweichungen von der Theorie festgestellt. „Das ist in der Teilchenphysik zu gering, um als Entdeckung neuer Physik zu gelten“, sagt Stachel.
Je größer die Sigma-Abweichung, desto weiter entfernt ist die Messung vom theoretischen Wert und desto unwahrscheinlicher ist es, dass dieser Wert bloß durch statistische Streuung entstanden ist. In der Physik sieht man erst Abweichungen von 5 Sigma als bemerkenswert an – dann liegen über 99,999 Prozent aller Werte näher an der Theorie. Um die bisher gemessene Abweichung zu verstärken, könnte beispielsweise der Messfehler durch bessere Instrumente verkleinert werden.
Seit 2018 läuft ein Folgeexperiment am Fermilab. Das Standardmodell der Physik hatte für die kombinierten Ergebnisse des neuen und alten Versuchs einen ganz anderen Wert vorausgesagt. Der Unterschied zwischen diesem Wert und der Theorie sei mit 4,2 Sigma statistisch signifikant. Die Messungen gehen weiter und es wird sich in wenigen Jahren zeigen, ob wir es hier mit einer Entdeckung neuer Physik zu tun haben“, so Stachel.
Ein Methusalem von 64 Mikrosekunden
Beim Myon handelt es sich um ein Elementarteilchen. Es ist also nahezu punktförmig und nicht aus anderen Teilchen zusammengesetzt. An sich ist das nur schwer zu greifen, denn schließlich hatte man schon Atome als unteilbar angesehen. Dann stellte sich aber heraus, dass sie unter anderem aus Protonen bestehen. Auch Letztere haben sich schließlich als teilbar erwiesen. Die Elementarteilchen scheinen aber unter aktuellen Laborbedingungen, also bei Zusammenstößen von Teilchen nahe der Lichtgeschwindigkeit, nicht in neue Teilchen teilbar zu sein. Sie haben sich ihren Titel also durchaus hart erstritten.
Das Myon nimmt im Zoo der Elementarteilchen einen respektablen Platz ein. Es hat ordentlich Masse (im Vergleich zu den anderen Leptonen, zum Beispiel dem Elektron) und kann einfach beobachtet werden, wenn es in einem Labor erzeugt und dann nahe der Lichtgeschwindigkeit gehalten wird. Warum Lichtgeschwindigkeit? Viele Elementarteilchen ereilt in freier Wildbahn nur allzu schnell der Zerfall, kaum dass sie entstanden sind. So ist eine Lebensdauer von 0,000001 Sekunden nach diesen Maßstäben bereits enorm lang. In einem Teilchenbeschleuniger jedoch wird ihr Leben künstlich verlängert. Einsteins Relativitätstheorie besagt, dass die Zeit in einem System nahe der Lichtgeschwindigkeit nur noch sehr langsam vergeht. So kann man als außenstehender Beobachter dem Myon ganze 64 Mikrosekunden beim Herumflitzen zusehen, wenn es beinahe so schnell ist wie Licht, obwohl es im Ruhezustand nur etwa 2 Mikrosekunden überleben würde. Dies macht es ideal, um das bisherige physikalische Modell der Teilchenphysik auf den Prüfstand zu stellen.
Das Myon ist wie ein kleiner Magnet, der sich sehr schnell dreht. Genau diese Drehung und der daraus resultierende g-Faktor hat nun für Schlagzeilen gesorgt. Stachel glaubt, dass es sich im Falle einer Bestätigung der gefundenen Abweichung um mehr als nur ein kleines Puzzleteil handele. „Wir wissen bereits mit Sicherheit, dass es Physik jenseits des bisherigen Standardmodells gibt. Dass also die Physik erweitert werden muss, um neue Phänomene einzuschließen.“ Allerdings glaubt sie nicht, dass die Entdeckung die Teilchenphysik von Grund auf revolutionieren würde. „Fakt ist, dass natürlich eine Vielzahl von physikalischen Beobachtungen und der Phänomene in der Welt um uns herum vom Standardmodell mit hervorragender Genauigkeit beschrieben wird.“ Das Standardmodell würde sich laut Stachel eher durch neue erweitern und „auf die Natur der dunklen Materie, von deren Existenz wir aufgrund von Messungen überzeugt sind, Licht werfen.“
Ob sich die Physikvorlesungen durch diese Erkenntnisse verändern könnten? Nicht wesentlich, vermutet Johanna Stachel. Vielleicht könne sie irgendwann einmal hinzufügen, „dass wir jetzt wissen, aus was dunkle Materie besteht. Oder stattdessen vielleicht auch: dass wir jetzt g-2 genauer berechnen können, dass dabei ein anderer Wert herauskommt, als in früheren Rechnungen, und dass damit ein langjähriges Rätsel gelöst ist.“
Von Lena Hilf
...studiert Physik und schreibt seit Oktober 2019 für den ruprecht. Besonders gerne widmet sie sich Glossen, die oft das alltägliche Leben sowie wissenschaftlichen oder politischen Themen. Seit April 2021 leitet sie das Ressort Hochschule.