Anna Neffs Weg in die Arbeitswelt war nicht immer einfach. Dieser führte sie zunächst in eine Werkstatt für behinderte Menschen. Sie hätte sich dort nicht wertgeschätzt gefühlt, berichtet sie. Das sei jetzt anders. „Ich bin endlich angekommen.“ Als Bildungsfachkraft im Annelie-Wellensiek-Zentrum für Inklusive Bildung (AW-ZIB) verdient sie heute genug Geld für sich und ihre Tochter, die sehr stolz auf ihre Mama ist.
Das AW-ZIB ist eine wissenschaftliche Einrichtung, die im November 2020 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg gegründet wurde. Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung haben für einen Dozent:innenjob am AW-ZIB eine dreijährige Qualifikation zur Bildungsfachkraft abgeschlossen und sind unbefristet und sozialversichert an der Hochschule angestellt. Ein Novum, sowohl national als auch international. Die drei Bildungsfachkräfte Anna Neff, Thorsten Lihl und Helmuth Pflantzer sowie das Leitungsmitglied Karin Terfloth berichten für den ruprecht von ihren Erfahrungen.
Auch Helmuth Pflantzer erinnert sich noch gut an seine frühere Arbeit in einer Werkstatt, wo er an der Pforte und als Telefonist tätig war. Er erzählt, dass er sich irgendwann überhaupt nicht mehr wohl und total unterfordert gefühlt hätte. Das Arbeiten an der Pforte habe ihn krank gemacht. Dank der Unterstützung einer Sozialarbeiterin hat er sich für die Qualifizierung zur Bildungsfachkraft beworben. „Ich bin so ein willensstarker Typ, der nie Stillstand erträgt“, verrät er mit einem Lächeln.
Die drei sind Teil eines großen Teams am Annelie-Wellensiek-Zentrum. Neben der Arbeit an verschiedenen Projekten geben sie Seminare, in denen sie Studierenden über ihre Erfahrungen zu Themen wie Teilhabe und Selbstbestimmung oder Wohnen mit Behinderung berichten. Anfangs nehmen sie manchmal Unsicherheiten von Seiten der Studierenden wahr. Als sehr unangenehm beschreiben sie es, wenn niemand eine Frage stellt. Der Austausch und das Teilen ihrer Erfahrungen liegt ihnen sehr am Herzen. „Wir müssen über diese Themen reden“, da sind sich die frisch gebackenen und doch schon sehr erfahren wirkenden Bildungsfachkräfte einig. Von Seiten der Studierenden stößt dieser Austausch auf positive Resonanz und auch andere Hochschulen sind an einer Zusammenarbeit interessiert.
Wichtig ist den Angestellten, in ihrer Arbeit immer als Mensch mit verschiedenen Eigenschaften, Stärken und Schwächen gesehen und nicht auf die Behinderung reduziert zu werden. „Ich kenne keinen Menschen, der alles perfekt kann. Jeder hat irgendwo ein Handicap“, fügt Anna Neff an. Wichtig sei es zu wissen, wie man damit umgeht. Sie erzählt von ihrem Kind und ihrer Freude am Inliner fahren oder den Spaziergängen mit ihrem Hund. Auch Helmuth Pflantzer schwärmt von seinen Reisen quer durch Europa und seiner Liebe zum Eishockeyclub Adler Mannheim. Beide sind mit vielen Menschen ohne Behinderung umgeben und fühlen sich gut integriert. Thorsten Lihl wohnt in einer WG mit Assistenz, teilweise zusammen mit engen Freunden, die er noch aus der Schulzeit kennt. Neben seinem Interesse an der Musikproduktion freut er sich sehr, wenn er wieder Partys besuchen kann.
Dennoch ist ihnen bewusst, dass ihre Behinderung sie in gewisser Weise besonders macht und so erst diese Arbeit ermöglicht hat. „Ohne meine Schädigung“, gibt Helmuth Pflantzer zu bedenken, „wäre ich nicht, wer ich bin.“ Karin Terfloth führt das sogenannte „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“ an. Demnach werden für inklusionsorientierte Initiativen erst zusätzliche Ressourcen und Gelder bereitgestellt, wenn ein Label gesetzt wurde, wie die Einstufung als „kognitiv beeinträchtigt“. Dies sei ihrer Auffassung nach ein Problem in Deutschland, da eine Unterscheidung von Menschen mit und ohne Behinderung gerade in den Bereichen vorgenommen würde, in denen diese Kategorisierung durch individuelle Unterstützung überwunden werden sollte.
Alle drei Bildungsfachkräfte sind sich einig, dass die Wertschätzung für ihre Arbeit und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung maßgeblich dazu beitragen, dass sie sich heute im Leben so wohl fühlen. Diese gelebte Inklusion ist in Deutschland zum Großteil keine Realität. Mehr als 90 Prozent der kognitiv beeinträchtigten Menschen arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen. Das Ziel einer anschließenden Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt wird selten erreicht. Auch weitere Möglichkeiten, welche das neue Bundesteilhabegesetz vorsieht, stecken laut Karin Terfloth in der Umsetzung noch in den Kinderschuhen.
Die Beteiligten hier in Heidelberg haben diese Möglichkeiten genutzt. Ein langwieriger Prozess, welcher mit viel Arbeit verbunden ist. „Es muss Menschen geben, die Mut haben, da reinzuspringen, sowohl von der Hochschule als auch von Menschen mit Behinderungserfahrung!“, fügt Helmuth Pflantzer an. Die anderen können ihm nur zustimmen. Es scheint kein einfacher Weg zu sein, aber ein Weg, der sich lohnt. Da ist man sich sicher, wenn man die Bildungsfachkräfte begeistert von ihrer neuen Arbeit berichten hört. Anna Neff stimmt zu: „Man hat es mir nicht zugetraut. Ich wollte es aber. Und habe bewiesen, dass ich es kann.“
Von Anabelle Kachel
...studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2021 für den „ruprecht“. Während im Studium die funktionellen Zusammenhänge des menschlichen Körpers im Vordergrund stehen, fasziniert sie bei ihrer Arbeit als Redakteurin der Mensch in seiner Gesamtheit. Besonders gerne tritt sie direkt mit den Menschen in Kontakt und interessiert sich für Einblicke in ihre Lebensrealitäten und Ansichten. So führte sie zahlreiche Interviews, zum Beispiel mit dem Comedian Florian Schroeder oder dem Lokalpolitiker Sören Michelsburg.