Anna redet sich in Rage: „Die Produktion von Zement ist nicht vereinbar mit einer klimagerechten Welt. Wenn wir das Pariser Klimaabkommen einhalten wollen, müssen wir eine radikale Bauwende vollziehen.“ Anna ist Klima-Aktivistin aus Heidelberg. Nicht bei Friday’s for Future oder Extinction Rebellion, sondern bei Wurzeln im Beton. Die Gruppe hat seit 2020 die Zementproduktion im Visier. Dafür müssen die Aktivist:innen nicht weit reisen. Einmal über den Neckar, in Neuenheim, sitzt der zweitgrößte Zementproduzent der Welt: HeidelbergCement.
Letzten August war Anna Teil einer Protestaktion. Früh morgens blockierten Aktivist:innen von Wurzeln im Beton das Verwaltungsgebäude von HeidelbergCement. Sie betonierten sich die Füße ein und stellten Banner auf. Ihre Forderungen? „Blumenwiese statt Betonwüste!“ Das Klima retten, kurz gesagt.
HeidelbergCement ist für die Aktivist:innen besonders eins: „ein krasser Klimakiller“. „Die Zementproduktion ist für 8 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Das ist doppelt so viel wie der gesamte Kontinent Afrika und dreimal mehr als der weltweite Flugverkehr“, sagt Anna.
Lange hält die Protestaktion nicht an. Gegen Mittag wird sie von der Polizei aufgelöst. Der Sicherheitsdienst des Unternehmens hatte diese verständigt. „Eine ernsthafte Reaktion von HeidelbergCement haben wir sowieso nicht erwartet“, sagt Anna. „Bei der Aktion ging es uns eher darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die meisten Heidelberger:innen wissen gar nicht, was für ein Umweltzerstörer HeidelbergCement ist“.
Diesen Mai ist eine weitere Demonstration gegen HeidelbergCement geplant. Auf der Neckarwiese stehen die Aktivist:innen von Wurzeln im Beton erneut mit Plakaten bereit. Auch Coco will dieses Mal an der Demo teilnehmen. Coco möchte allerdings mehr als nur ein Zeichen gegen Treibhausgase setzen. Er ist Journalist und lebt seit 2016 in Deutschland. Aus seinem Heimatland Togo musste er wegen politischer Verfolgung fliehen.
„HeidelbergCement kam als Eroberer, nicht als Freund“
Geographisch ist Cocos Heimatland sehr weit weg vom Glasbau der Firmenzentrale in Neuenheim. Togo liegt in Westafrika, am Golf von Guinea. Ökonomisch ist Togo jedoch sehr eng mit HeidelbergCement verbunden. Das Unternehmen betreibt dort drei Tochterfirmen und ist damit der wichtigste Auslandsinvestor des Landes.
Mit viel Geld kommt vor allem eines: viel Macht. Macht über Menschen, über Ressourcen, über Ökosysteme. Macht über die Lebensgrundlagen einer ganzen Nation. Coco hat eine klare Haltung: „HeidelbergCement kam als Eroberer, nicht als Freund“. Das Ziel der „Eroberer“? Die beträchtlichen Kalksteinvorkommen des Landes. Kalkstein ist eines der wichtigsten Rohmaterialien für die Herstellung von Zement. Einmal hergestellt, kann Zement vielseitig eingesetzt werden, zum Beispiel als Bindemittel für Beton. Nach Wasser ist Beton die gefragteste Ressource weltweit. Zement ist eine wahre Goldgrube.
Um an das teure Gut zu kommen, muss der natürliche Kalkstein abgebaut werden. Kalkstein wirkt dabei als CO2-Senke. Wird er abgebaut, wird das natürlich gebundene CO2 wieder in die Atmosphäre abgegeben. Für die Weiterverarbeitung muss der Kalkstein dann erhitzt und zermahlen werden. Das benötigt sehr hohe Temperaturen. Um diese Hitze zu erzeugen, muss auf fossile Rohstoffe und Müllverbrennung zurückgegriffen werden.
Im Taboligo-Steinbruch kann man die Folgen dieses Prozesses gut verfolgen. 2014 wurde der Steinbruch im kleinen togolesischen Dorf von HeidelbergCements Tochterfirma Scantogo in Betrieb genommen. Seitdem liegen dort starke Schäden an der Struktur seines Bodens vor. Als direkte Konsequenz von Kalkabbau werden nämlich Erosionsprozesse beschleunigt. Auch befinden sich im Rauch und Staub der Maschinen Schadstoffe und Schwermetalle. Einmal freigelassen, setzen diese sich in der Umwelt fest und werden von Mensch und Tier aufgenommen. „Das Wasser wird nicht mehr trinkbar, die Landschaft nicht mehr fruchtbar sein“, sagt Coco. „Landwirtschaft ist die Hauptwirtschaftstätigkeit vor Ort, wie sollen die Menschen denn ohne ihr Ackerland leben?“
Wer dem entfliehen will, der:die muss Haus und Hof verlassen und weiterziehen. Eine Kompensation seitens des Unternehmens gibt es dafür nicht. Auch für ganze Kommunen, die ihr Ackerland für die Errichtung eines Steinbaus hergeben mussten, gibt es bis heute keine Entschädigung.
Es ist eine Art Enteignung, die nicht nur wirtschaftliche Folgen mit sich zieht. Land, das seit Generationen weitergegeben wurde, fällt dem Kalkabbau zum Opfer. Heilige Teiche und Wälder, rituelle Stätten und Gräber werden vernichtet. Die Betroffenen verlieren ihr kulturelles Erbe, Teil ihrer Identität. „Der Togo wird ausgebeutet und wir bekommen nichts zurück“, sagt Coco.
Wer dennoch für den Erhalt seiner Heimat protestiert, der:die bekommt es mit dem Militär zu tun. „Die Armee unterstützt die Regierung und bekommt dafür Geld. Wenn Landbesitzer protestieren, dann geht die Armee gegen sie vor“, sagt Coco. Er vermutet, dass die Regierung Aktien von HeidelbergCement besitzt und dass HeidelbergCement Manager:innen einstellt, die dem Regime nahestehen.
Von der Diktatur im Visier
Die Missstände in Togo beschränken sich nicht auf HeidelbergCement. Sie reichen Jahrzehnte in die Vergangenheit zurück – genauer, 58 Jahre. So lange wird der Togo von einem autoritären Regime regiert. Reporter ohne Grenzen setzt Togo auf Platz 74 von 180 in der Rangliste der Pressefreiheit. 2015 waren 11 Prozent der Togoles:innen unterernährt. Knapp 70 Prozent der Bevölkerung verfügen bis heute über weniger als zwei US-Dollar am Tag.
Und an der Spitze des Regimes? Präsident Faure Gnassingbé. 2005 übernahm Gnassingbé mithilfe des Militärs die Präsidentschaft von seinem Vater Gnassingbé Eyadéma nach dessen Tod. 35 Jahre lang hatte Togo unter der Diktatur Gnassingbé Eyadémas leiden müssen und hatte nun auf freie und faire Wahlen gehofft – vergeblich.
Pierre erinnert sich noch daran. Er ist ebenfalls Togolese und musste, wie Coco, aus seiner Heimat fliehen. Dies allerdings schon vor 16 Jahren. Im Frühjahr 2005 widersetzt er sich mit Tausenden von Menschen dem nationalen Demonstrationsverbot und geht gegen Gnassingbé auf die Straße. Damals kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und Konflikten. Das Militär tötet von März bis Mai insgesamt fast 800 Menschen. Im April 2005 werden schließlich Wahlen abgehalten: Gnassingbé erlangt 60 Prozent der Stimmen. Damit erhält er die Legitimität, die er braucht, um durchgreifen zu können. Er erlässt einen nationalen Haftbefehl – und alle, die Wochen zuvor demonstriert hatten, müssen nun vor dem Gesetz fliehen.
Pierre bleibt keine andere Möglichkeit, als sein Heimatland zu verlassen. Zunächst geht er ins benachbarte Ghana, dort ist er aber auch nicht sicher. In Ghana stößt er dann auf ein Netzwerk, das Menschen auf der Flucht nach Deutschland hilft. „Ich hatte keine Wahl. Ich musste einfach die Gelegenheit ergreifen”. Seit 2006 wohnt er bei Freiburg. Togo hat er seitdem nie wieder besucht. „Ich habe Freunde und Familie in Togo, ich kenne politische Aktivisten dort“, sagt er. „Aber immer, wenn sie mit mir Kontakt aufnehmen, werden sie verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Ich würde gerne wieder mal in meine Heimat. Aber es ist einfach zu gefährlich“.
Ausgebeutet für das bessere Leben
Pierre kennt HeidelbergCement. Menschen, die dort arbeiten, kennt er aber kaum. Die meisten kämen aus Nigeria, Burkina Faso, Ghana oder Benin. Sie seien meist nur für ein Jahr eingestellt, denn ausländische Arbeiter:innen könne man noch niedriger bezahlen als Togoles:innen. „Keiner will sich beschweren,” sagt Pierre. „Die Arbeiter wollen ihren Job nicht verlieren. Sie sind nur befristet hier, daher gilt das togolesische Arbeitsrecht für sie nicht“.
Coco berichtet dasselbe: Pro Tag bekämen die Arbeiter:innen 300 CFA-Francs. Umgerechnet sind das etwa 50 Cent. Im Monat wären das 13,7 Euro, das sind etwa 9000 CFA-Francs. Der Mindestlohn beträgt 35.000 CFA-Francs. „Solange der Profit erzielt wird, ist alles andere egal“, sagt Coco.
Schon vor seiner Flucht versucht Coco, kritisch über HeidelbergCement zu berichten. Einmal habe er versucht, einen Kollegen zu einer der togolesischen Fabriken zu schicken, um vor Ort über die Arbeitsbedingungen berichten zu können. Als dieser ankam, sei ihm gedroht worden, man wolle ihn lynchen. Nach einer Weile habe Coco Drohungen erhalten – anonyme Anrufe, die ihn darüber informieren, dass die Polizei auf ihn warte. Ihm wird die Arbeit zu gefährlich. Er flieht. Aus Deutschland versucht er bis heute, Informationen an kritische Journalist:innen vor Ort weiterzugeben. Sein Blog ist im Togo gesperrt.
„Unsere Ressourcen werden ausgebeutet und wir bekommen nichts im Gegenzug”, sagt Coco. “Die Bewohner des Togos werden in den Tod getrieben”. Pierre sieht die Situation ähnlich. „HeidelbergCement verletzt die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit des Togos“. Er lächelt schmerzlich. Es sei ein perfektes Beispiel des Neokolonialismus.
Für die Togoles:innen bleibe bald keine Alternative, außer sich dem „Eroberer“ zu unterwerfen. Für uns Europäer:innen schon, sagt Pierre: „Wir müssen uns weiter gegen HeidelbergCement aussprechen. Togo braucht mehr Aufmerksamkeit in den Medien. Aber die EU will einfach nur mehr Geld“.
Auch Anna von Wurzeln im Beton gibt den Kampf nicht auf. Sie möchte, dass in Zukunft alle Heidelberger:innen über dieses Thema Bescheid wissen. „Das zweitgrößte Zementunternehmen sitzt hier in Heidelberg: Die Menschen aus Baden-Württemberg tragen einen großen Teil der Verantwortung.“ Wurzeln im Beton habe schon oft HeidelbergCement zur Rede stellen wollen, habe aber noch nie eine Antwort erhalten. Aber die Bilder, Erfahrungen und auch das Schweigen sprechen für die Aktivist:innen für sich. „Es gibt zu viele Dinge, die sich ändern müssen“, sagt Coco. „Aber das Bewusstsein darüber, das ist ein erster Schritt“.
Von Natascha Koch und Lina Abraham
Interviews und Übersetzung von Lisa Pillaud
Natascha Koch studiert Politikwissenschaften und Geschichte und schreibt seit 2019 für den ruprecht. In ihren Artikeln dreht es sich um aktuelle politische und gesellschaftliche Trends und alles, was die Welt bewegt – oder auch nur das Internet. Seit 2020 leitet sie das Ressort für die Seiten 1-3.
...hat während der Coronapandemie ihre Liebe zum Schreiben und zum ruprecht entdeckt und war bis zum Ende ihres Studiums in Heidelberg Teil der Redaktion. Sie leitete das Ressort „Seite 1-3“ und erlebte, wie der ruprecht im Jahr 2021 als beste Studierendenzeitung Deutschlands ausgezeichnet wurde. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Recherche über das Unternehmen „Heidelberg Materials“ und dessen Umgang mit Menschenrechten in Togo. Lina ist weiterhin journalistisch aktiv und schreibt für das Onlinemagazin Treffpunkteuropa. Zudem ist sie als Podcast Autorin beim BdV tätig und berichtet über Flucht und Vertreibung in Europa.
Bitte sehr viel mehr Cross-border journalism – wir müssen mit den kritischen journalistischen Stimmen des globalen Südens mehr denn je eng zusammenarbeiten. Was für ein unfassbar guter Artikel! Danke euch für die aufwändige Recherche.