Joscha steht in der Schlange einer Heidelberger Bäckerei und will Brötchen kaufen. Die Frau an der Brottheke mustert ihn abschätzig. „Für wen haben Sie denn Modell gestanden?“, sagt sie. Zwei Stunden davor hatte sich Joscha die Nägel schwarz lackiert. Über eine Stunde lang, weil er es davor noch nie gemacht hatte und es ausprobieren wollte. Und vielleicht auch, weil Joscha es einfach schön fand.
Noch immer ein Tabu: Männer mit Wimperntusche
Die Frau hinter der Brottheke findet es so unschön, dass sie ihn darauf anspricht. Ja: Männer, die sich schminken oder, wie Joscha, die Nägel lackieren, fallen auf. Immer noch und immer wieder. Sollen, sollten, können oder dürfen sich Männer schminken? Ich will herausfinden, was mein Umfeld denkt und gehe auf Einkaufstour in einer Drogeriekette, deren Name irrelevant ist. Ich biege in eine Abteilung, der ich bisher kaum Beachtung geschenkt habe. Die Regale mit Lippenstiften, Wimperntusche und Puder.
Als ich 15 war und vor mich hin pubertierte, drückte mir meine Mutter vor der Schule mal ein Flacon in die Hand. Ich wollte unbedingt meine Pickel und Hautrötungen aus dem Gesicht verbannen und beschmierte es mit der cremigen Substanz, von der ich seit ein paar Tagen weiß, dass die Gesellschaft sie „Concealer“ getauft hat. Meine Abdeckfähigkeiten hielten sich in Grenzen. Seitdem habe ich die Finger von allem gelassen, was entfernt damit zu tun hat.
Um mir Tutorials im Internet oder die nervigen Ratgeberseiten von Chip oder Focus zu sparen, habe ich eine Freundin zur Beratung überredet. Ich kaufe mir Concealer, Puder und eine mattierende Pflegecreme, zwei Pinsel und ein Schwämmchen. Dafür gebe ich an diesem Montag in der namenlosen Drogerie knapp 20 Euro aus, obwohl ich stets das Billigste vom Billigen genommen habe. Die Kosmetikindustrie setzte 2020 in Deutschland knapp 15 Milliarden Euro um und geiert natürlich auf den kaum erschlossenen männlichen Teil der Gesellschaft. Ich könnte beschließen, an dieser Stelle deshalb einen Strich zu ziehen und mich nicht den cremigen Substanzen hinzugeben. Beschließen, mir und meinem Geldbeutel einen großen Gefallen zu tun und stattdessen Eisessen zu gehen.
Aber ich denke an den Pickel auf meiner Stirn, der mich schon seit Monaten belästigt. Und ich denke an die Hautrötungen, die ich nie vollständig aus meinem Gesicht eliminiert bekomme. Ich könnte sie hinter ein bisschen Tagescreme, Concealer und Puder unauffällig verstecken. Ich knete die Tagescreme in mein ganzes Gesicht. Danach tippe ich Concealer auf meine Wange, meine Stirn und mein Kinn, um im Anschluss das Schwämmchen zu befeuchten und die deckende Substanz einzuklopfen. Während ich vor mich hin conceale, graut mir schon davor, das alles am Abend wieder von meiner Haut loszuwerden. Anschließend stippe ich den Pinsel in den Puder – fertig. Fertig? Ich sehe aus wie eine Puppe. Der Selbstwertboost hält sich in Grenzen.
In den darauffolgenden Tagen entdecke ich Wimperntusche, tupfe mit meinen Fingerspitzen Lippenstift auf meinen Mund und drangsaliere versehentlich mein Augenlid mit der Wimpernzange. Ich fühle mich wie ein kleines Kind, das Laufen lernt. Aber: Ich werde besser, dosiere vorsichtiger. Viele Menschen aus meinem Umfeld reagieren positiv. Ich erkenne: Schminken muss nicht auffällig sein. Vielleicht ist es sogar am schönsten, wenn es eben nicht sofort auffällt, sondern angenehm mein Auftreten abrundet. Wenn das nicht ein Vorteil für mein Gesicht und seine Macken ist?
Ich erkenne: Schminken muss nicht auffällig sein
Am Freitagmorgen widerspricht mir meine Mitbewohnerin. Sie hatte mein geschminktes Gesicht zwar bemerkt, erkannte aber keinen Effekt. „Es verändert nichts an dir, ich sehe immer noch die gleiche Person.“ Natürlich bin ich äußerlich anders, aber die Makel, die ich ohne Concealer auf der Haut sehe, die sehe vorallem ich. Ich sehe mich jeden Tag im Spiegel. Wenn alle mit ihren eigenen Makeln im Gesicht beschäftigt sind, fallen die der anderen gar nicht mehr auf. Kurz: Der Aufwand ist hoch, der Ertrag ziemlich mäßig.
Trotzdem gebe ich der Frau hinter der Brottheke Contra. Zu keinem Zeitpunkt wurde entschieden, dass ein bisschen Tusche auf den Wimpern für Frauen verpflichtend und für Männer verboten ist. Zwei Schritte zurückgetreten ist es eine Kunst, in der man sich immer wieder neu erfinden kann. Sie ist überflüssig, aber voller Substanz, voller cremiger Substanz und genau deshalb wunderschön. Wer hingegen darin einen verlangten Standard sieht, kann sich die Mühe getrost sparen.
von Thomas Degkwitz
Thomas Degkwitz will seit 2019 die Netzwerke der Stadt verstehen. Das hat er für zwei Jahre auch als Ressortleiter “Heidelberg” versucht. Ihm ist das Thema Studentenverbindungen zugelaufen, seitdem kümmert er sich darum. Außerdem brennt er für größere Projekte wie die Recherche zur Ungerechtigkeit im Jurastudium. Lieblingsstadtteil: die grünflächige Bahnstadt (*Spaß*)