Zu Beginn der Corona-Pandemie war ein Begriff in aller Munde: Herdenimmunität. Der heilige Gral der Pandemiebekämpfung. Doch es gibt bereits seit vielen Monaten eine Impfung, das Virus mutiert fröhlich vor sich hin und wird immer ansteckender aber eine Herdenimmunität ist in Deutschland immer noch nicht in Sicht. Andere Länder scheinen das besser zu machen. Doch wie eigentlich? Und was versteckt sich hinter diesem Begriff?
Der Ausdruck Herdenimmunität bezeichnet in der Epidemiologie eine Situation, in der die Verbreitung einer Infektionskrankheit verhindert wird und dadurch auch Individuen geschützt sind, für die eine Impfung nicht möglich ist, eine Infektion jedoch schwerwiegende Folgen bis zum Tode haben könnte. Erreichen kann eine Herde, also auch eine moderne Gesellschaft, dies entweder durch eine Durchseuchung, falls der Krankheitserreger nicht schneller mutiert, als durchseucht werden kann, oder durch eine ausreichend hohe Impfquote.Langfristig kann Herdenimmunität ausschließlich durch Impfungen erreicht werden, da stets neue Individuen in die Herde geboren werden, die noch nicht immunisiert sind.
Nachhaltige Herdenimmunität setzt demnach zwei Bedingungen voraus: die Verfügbarkeit einer Impfung und die Bereitschaft innerhalb der Bevölkerung sich selbst und seine Mitmenschen durch eine Impfung zu schützen. Im Dezember 2021 scheint in Deutschland nur eine Vorraussetzung erfüllt zu sein. Damit steht es im Gegensatz zu drei anderen europäischen Ländern und einem kleinen Stadtstaat.
„Jeder sollte gegen Covid-19 geimpft werden. Dies ist eine bürgerliche Pflicht.“
Spanien wurde von der ersten Coronawelle hart getroffen. Die Krankenhäuser waren hoffnungslos überlastet, tausende Menschen sind gestorben, ein harter, landesweiter Lockdown wurde durch das Militär kontrolliert. Doch im Winter dieses Jahres schauen Spaniens Einwohner:innen voller Staunen nach Mitteleuropa. Wieso ist ausgerechnet das reiche Deutschland so schlecht vorbereitet? Wieso haben sich nicht einfach alle impfen lassen? Spanien weist mit über 80 Prozent Impfquote eine beachtlich hohe Impfbereitschaft auf, besonders da es sich um ein vergleichsweise junges Land handelt mit über zehn Prozent unter 12-jährigen, für die lange noch gar keine Impfung in Sicht war. Zurückzuführen ist dies nicht ausschließlich auf die schlimme erste Corona-Welle, sondern auch auf die Struktur der Impfkampagne. In Spanien wurden die Impftermine nach Alter gestaffelt vergeben und dadurch die Hürden für die Inanspruchnahme möglichst gering gehalten. Jede:r Einwohner:in bekam eine SMS mit einem zeitnahen Impftermin in den folgenden Tagen und falls er diesen Termin nicht wahrnahm, kam die nächste und die nächste und die nächste. Nur 6 Prozent der Spanier:innen haben nicht vor sich gegen Covid-19 impfen zu lassen.
Die breite Bereitschaft gründet sich auch auf der langen Herrschaft von Franco. Der Diktator lehnte Impfungen konsequent ab, wie auch andere rechtsnationale Diktatoren. Da er bis Mitte der 1970er an der Macht blieb, konnte er somit verhindern, dass tausende Kinder gegen Kinderlähmung geimpft wurden, als eine Impfung schon weltweit zur Verfügung stand. Die Folge waren regelmäßige Polio-Endemien: Viele Eltern verloren ihre geliebten Kinder, Brüder ihre Schwestern, Schwestern ihre Brüder. Die, die Polio überlebten, blieben oft auf ewig gelähmt. Erst in den 90ern war Polio komplett in Spanien besiegt. Das sind nur knapp 30 Jahre. Wer die Schrecken einer solchen Infektionskrankheit und vor allem deren Ende mittels Impfungen noch miterlebt hat, der scheint einer Impfung während einer Pandemie zugeneigter. Und so stimmten 80 Prozent der spanischen Bevölkerung in einer europäischen Umfrage der Aussage “Jeder sollte gegen Covid-19 geimpft werden. Dies ist eine bürgerliche Pflicht” zu.
„Wir befinden uns im Krieg“
Portugals Impfstrategie der vergangen Monate beschreibt man am besten mit einem Mann: Offizier Gouveia e Melo. Er war Leiter der Task Force, der das Managment der Impfkampagne oblag. Stets in Tarnuniform gekleidet, verwendete er konsequent Kriegsrhetorik, um den Portugiesen:innen den Ernst der Lage zu verdeutlichen. So hieß es gleich zu Beginn: “Wir befinden uns im Krieg”. Später dann “Es gab nur zwei Seiten, den Feind und den Freund. Der Freund war das Volk, das galt es zu schützen. Der Feind war das Virus “. Wie Spanien litt Portugal stark unter der ersten Coronawelle und ist von den Erinnerungen der überfüllten Krankenhäuser geprägt, die durch eine Impfung vermeidbar gewesen wären. Wem dies als Motivation sich, impfen zu lassen, noch nicht genügte, wurde darüber hinaus benachrichtigt. So erreichte Portugal eine Impfquote von fast 90 Prozent, alles ohne Impfzwang und mit einer ähnlich jungen Bevölkerung wie in Spanien. Offizier Gouveia e Melo verabschiedete sich daraufhin von seinem Posten mit den Worten: „Der Krieg ist noch nicht beendet, aber immerhin haben wir die erste Schlacht gewonnen.“
„Viele misstrauen nicht den Corona-Vakzinen, sondern der Gesellschaft“
Deutschlands direkter Nachbar Dänemark schneidet nicht ganz so gut wie die Länder der iberischen Halbinsel ab, zeichnet sich aber durch besonders großes Engagment aus. Bereits früh wurde erkannt, das Impfen nicht zum Politikum werden darf, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Informationen lagen schon direkt zu Beginn der Pandemie in vielen Sprachen bereit. Aufklärungsarbeit wurde vor Ort betrieben, mit Fachkräften der Sozialdienste, Mitglieder:innen der Kirche oder Hausärzt:innen. Dabei erkannten die dänischen Mediziner:innen wie beispielsweise Morten Sodemann, dass viele Ungeimpfte nicht den Corona-Vakzinen misstrauten, sondern der Gesellschaft. Wieso sollte man sich impfen lassen, wenn man doch selbst noch gesund ist und mit so einer Krankheit doch bestimmt fertig wird? Und die Herstellung des Impfstoffs ging doch sehr schnell. Und was macht eigentlich diese Gesellschaft für mich? Sonst interessiert sich doch auch niemand für mich! Solche Gedanken gibt es scheinbar nicht nur in Deutschland sondern auch in Dänemark. Dort sind diese Gedankengänge vor allem bei den Arbeitsmigrant:innen aus Polen, Estland oder Rumänien vorhanden und bei Menschen aus sozialen Brennpunkten, die vielen Falschinformationen ausgesetzt sind und das Vetrauen in die Politik verloren haben. Doch genau diesem Misstrauen wurde durch offene Kommunikation, breites Engagement und direkten Kontakt entegegengewirkt. Immer und immer wieder. Und es zeigt sich, dass die meisten für gute Argumente ansprechbar sind. Sie wollen allerdings persönlich überzeugt werden. Inzwischen liegt die Impfquote bei knapp 80 Prozent. In allen drei Ländern wurden die Impfkampagnen im Sommer nicht einfach laufen gelassen, der bevorstehende Winter war Mahnung zur aktiven Mobilisierung aller Ressourcen, um möglichst hohe Impfquoten zu erzielen.
„Ja, bitte“
Doch müssen wir gar nicht ins Ausland schauen, um ein gutes Vorbild für Deutschland, Baden-Württemberg oder einfach Heidelberg zu finden. Das Bundesland Bremen weist mit einer Impfquote von knapp 80 Prozent, bei über 18-jährigen sogar 92 Prozent, ein deutlich höheres Ergebnis auf als der Rest Deutschlands. Zum Vergleich: Heidelberg liegt bei knapp 69 Prozent. Aber wieso sagen ausgerechnet die Bremer:innen nicht auch einfach “Nein, danke”? In Bremen wird eine ähnliche Strategie verfolgt, wie es in Dänemark der Fall ist. Impfskeptiker:innen wurden niederschwellig angesprochen, Informationen waren von Beginn der Pandemie an in vielen Sprachen verfügbar, es wurde mit Menschen zusammengearbeitet, denen bereits vertraut wurde.Verstanden wurde hier vor allem eins: Es gibt nicht “den Impfgegner”, mit “dem einen Grund” sich nicht impfen zu lassen. Es sind verschiedene Menschen, mit verschiedenen Hintergründen und Beweggründen, Ängsten und Problemen. Und das muss man ernst nehmen.
Drei Länder, drei unterschiedliche Selbstverständnisse und Erfahrungen mit einer Pandemie. Doch wird heutzutage zwar oft die Vermeidung der gesellschaftliche Spaltung betont, scheint der Schlüssel für eine erfolgreiche Impfkampagne mehr in der gesellschaftlichen Zusammenführung zu liegen. Diese benötigt ein aktives Überdenken des individuellen und gemeinschaftlichen Selbstverständnisses. Und die Motivation, möglichst viele von einer Impfung zu überzeugen. Daran sollte es aber zur Zeit bei überfüllten Krankenhäusern und explodierenden Infektionszahlen eigentlich nicht mangeln.
Von Zarah Janda
Zarah Janda studiert Molecular and Cellular Biology und ist seit dem Wintersemester 2020/21 beim ruprecht dabei. Am liebsten schreibt sie über Wissenschaft im Alltag.