Im Oktober 2021 beschuldigten zwei Spielerinnen der National Women‘s Soccer League (NWSL), Sinead Farrelly und Mana Shim, ihren Ex-Trainer Paul Riley der sexuellen Belästigung. Daraufhin entließ ihn der NWSL-Club North Carolina Courage und der US-Verband entzog ihm seine Lizenz. Paul Riley ist kein Einzelfall im US-Frauenfußball. Alleine in diesem Jahr wurden vier Trainer der NWSL aufgrund ihres Fehlverhaltens entlassen. Die Liga-Chefin Lisa Baird, der die Vorwürfe gegen Paul Riley bekannt waren, ist bereits zurückgetreten. Die Spielerinnen sprechen von systematischem Missbrauch. Dem Führungspersonal der angeklagten Klubs und Verbände, das zu großer Mehrheit männlich ist, sei das Problem zwar bekannt, man versuche jedoch in erster Linie die Organisation und somit auch die Täter:innen zu schützen. Die Geschehnisse erinnern an den im Jahr 2017 aufgekommenen Skandal im US-Frauenturnen, bei dem über 200 Sportlerinnen von US-Teamarzt Larry Nassar sexuell missbraucht wurden. Die meisten von ihnen waren zur Tatzeit minderjährig. Während der Ermittlungen offenbarte sich, dass auch hier den höchsten Führungskräften Larry Nassars Verhalten bekannt war, unternommen wurde jedoch nichts. Die Betroffenen sprechen von einer „Kultur der Komplizenschaft“.
Oft stellen die Verantwortlichen vieler Sportverbände und Olympiastützpunkte die Leistung über das Wohlbefinden der Athlet:innen. Auf solch hohem Niveau sind die Sportler:innen die teils brutalen Trainingsmethoden gewöhnt. Für sie ist es oft unmöglich zu identifizieren, wo hartes Training aufhört und der Missbrauch anfängt. Zudem begünstigt das ungleiche Machtverhältnis zwischen Trainer:innen und Sportler:innen den Machtmissbrauch. Denn die Trainer:innen können am Ende darüber entscheiden, ob sie die Karriere ihrer Athlet:innen fördern oder beenden.
Auch in Deutschland sind Fälle von emotionaler und physischer bis hin zur sexualisierten Gewalt im Leistungssport keine Seltenheit. Im Jahr 2020 haben die frühere Weltmeisterin Pauline Schäfer sowie fünf weitere Spitzensportlerinnen schwere Vorwürfe gegen die Trainerin Gabriele Frehse vom Olympiastützpunkt Chemnitz erhoben. Diese soll die Athlet:innen über Jahre hinweg psychisch und physisch misshandelt haben. Die Turnerinnen berichten von Schikanen, der eigenständigen Verabreichung schwerer Schmerzmittel durch die Trainerin und dem Trainieren mit gebrochenem Arm oder Bandscheibenvorfall. Diese Beispiele verdeutlichen erneut, dass den Trainer:innen freie Hand gegeben wird, wie sie die Sportler:innen trainieren und behandeln können.
„Wenn man länger verletzt war oder seine Leistung nicht erbracht hat, wurde man ignoriert. Alibimäßig wurde eine Psychologin für Gruppentherapien eingesetzt, damit die Trainer:innen vorgeben konnten, sich um das psychische Wohlbefinden der Sportler:innen zu kümmern. Periodenaussätze über Monate und Fettanteile von unter fünf Prozent als Frau waren Gang und Gäbe.“, erzählt eine Studentin der Fresenius Hochschule in Heidelberg, die fünf Jahre lang auf dem Olympiastützpunkt in Oberwiesenthal im Bereich Langlauf trainiert hat. Im Oktober 2020 hat der Landessportverband Baden-Württemberg einen Verdachtsfall sexualisierter Gewalt im Boxen am Olympiastützpunkt in Heidelberg veröffentlicht. Den drei beschuldigten Männern wird sexuelle Belästigung an mehreren Athletinnen vorgeworfen. Gegen zwei der drei Beschuldigten wurden die Ermittlungen inzwischen wieder eingestellt. Sie hätten „keinen hinreichenden Verdacht einer sexuellen Handlung der beiden Beschuldigten im strafrechtlichen Sinne ergeben“. Die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen wird dabei nicht in Frage gestellt. Lediglich die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung wird als gering eingestuft.
Eine Studie der Universitätsklinik Ulm aus dem Jahr 2019 zeigt, dass im Kontext des Sports genauso viele sexuelle Gewalttaten verübt werden wie in der katholischen und evangelischen Kirche zusammen. Genauere Zahlen liefert die Studie „Safe Sport“ aus dem Jahr 2016. Hierbei wurden 1.799 Kaderathlet:innen in Deutschland aus 128 verschiedenen Sportarten und 57 Sportvereinen befragt. Demnach wurden ein Drittel der befragten Kaderathlet:innen in Deutschland sexuell missbraucht. Eine:r von neun Athlet:innen hat schwere und/oder länger andauernde sexualisierte Gewalt im Sport erfahren. 86 Prozent berichten von emotionaler, 30 Prozent von physischer Gewalt. Die Mehrheit der betroffenen Athlet:innen ist bei der ersten Erfahrung sexualisierter Gewalt unter 18 Jahre alt. Dabei sind Athletinnen signifikant häufiger von sexuellem Missbrauch betroffen als Athleten. Der Verein „Deutsche Athleten“ möchte eine unabhängige Anlaufstelle für Opfer von Gewalt im Sport organisieren. Denn die betroffenen Sportler:innen gehen oftmals nicht zu den Anlaufstellen ihrer Sportverbände. Diese werden häufig als „Institution der Täter“ wahrgenommen und die Betroffenen haben Angst, nicht anonym zu bleiben und dadurch ihre Karriere zu gefährden. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) lehnt solch eine zentrale Anlaufstelle ab, da Sportverbände und -vereine selber Verantwortung für den Schutz vor Gewalt im Sport übernehmen sollen.
Doch die Ergebnisse der Studie „Safe Sport“ zeigen deutlich, wie prekär die Situation der Prävention von Gewalt im Sport ist. Zwar ist das Risiko für alle Formen sexualisierter Gewalt signifikant geringer, wenn Vereine eine klar kommunizierte „Kultur des Hinsehens und der Beteiligung“ haben. Dies bedeutet, dass die Vereine genauer auf die Biographie der Trainer:innen achten und bei Verdacht auf Fehlverhalten schneller reagieren. Allerdings geben nur die Hälfte der befragten Sportvereine, die keine Mitgliedsorganisation des DOSB sind, an, die Prävention sexualisierter Gewalt als ein relevantes Thema für Sportvereine anzusehen. Nur ein Drittel der Vereine gibt an, sich aktiv gegen sexualisierte Gewalt im Verein einzusetzen und nur jeder zehnte Verein stellt Ansprechpersonen für Opfer von sexualisierter Gewalt bereit. Dabei stufen Vereine mit Frauen im Vorstand die Prävention sexualisierter Gewalt eher als relevant ein und haben mehr Maßnahmen implementiert als Vereine ohne Frauen im Vorstand.
Es wird deutlich, dass es weltweit ein ernstzunehmendes Problem von systemischem Missbrauch im Leistungssport gibt und, dass vor allem Kinder und Frauen davon betroffen sind. Organisationen, Klubs und Verbände vermitteln den Eindruck, eher daran interessiert zu sein, sich und ihr Führungspersonal zu schützen als die Sportler:innen. Eine Lösung könnte mehr weibliches Führungspersonal im Sport sein. Frauen sehen die Prävention von jeglicher Art von Gewalt und Missbrauch im Leistungssport als relevanter an.
Von Lucie Bähre
...studiert Politikwissenschaften und Germanistik im Kulturvergleich. Sie kann sich für alle Themengebiete begeistern, interessiert sich aber am meisten für den gesellschaftspolitischen Bereich. Seit 2021 schreibt sie für den ruprecht und leitet seit 2022 Seite 1-3.